Kant: AA VIII, Idee zu einer allgemeinen ... , Seite 019 |
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| 01 | keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinctmäßig, | ||||||
| 02 | sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der | ||||||
| 03 | Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten. Daher würde ein jeder | ||||||
| 04 | Mensch unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen | ||||||
| 05 | seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder | ||||||
| 06 | wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich | ||||||
| 07 | geschehen ist), so bedarf sie vielleicht einer unabsehlichen Reihe von Zeugungen, | ||||||
| 08 | deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich | ||||||
| 09 | ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu | ||||||
| 10 | treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist. Und dieser Zeitpunkt | ||||||
| 11 | muß wenigstens in der Idee des Menschen das Ziel seiner Bestrebungen | ||||||
| 12 | sein, weil sonst die Naturanlagen größtentheils als vergeblich und | ||||||
| 13 | zwecklos angesehen werden müßten; welches alle praktischen Principien aufheben | ||||||
| 14 | und dadurch die Natur, deren Weisheit in Beurtheilung aller übrigen | ||||||
| 15 | Anstalten sonst zum Grundsatze dienen muß, am Menschen allein | ||||||
| 16 | eines kindischen Spiels verdächtig machen würde. | ||||||
| 17 | Dritter Satz. |
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| 18 | Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die | ||||||
| 19 | mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich | ||||||
| 20 | aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit | ||||||
| 21 | oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich | ||||||
| 22 | selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat. | ||||||
| 23 | Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der Mittel | ||||||
| 24 | zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft | ||||||
| 25 | und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon | ||||||
| 26 | eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung. Er sollte | ||||||
| 27 | nämlich nun nicht durch Instinct geleitet, oder durch anerschaffene Kenntniß | ||||||
| 28 | versorgt und unterrichtet sein; er sollte vielmehr alles aus sich selbst herausbringen. | ||||||
| 29 | Die Erfindung seiner Nahrungsmittel, seiner Bedeckung, seiner | ||||||
| 30 | äußeren Sicherheit und Vertheidigung (wozu sie ihm weder die Hörner | ||||||
| 31 | des Stiers, noch die Klauen des Löwen, noch das Gebiß des Hundes, sondern | ||||||
| 32 | bloß Hände gab), alle Ergötzlichkeit, die das Leben angenehm machen | ||||||
| 33 | kann, selbst seine Einsicht und Klugheit und sogar die Gutartigkeit seines | ||||||
| 34 | Willens sollten gänzlich sein eigen Werk sein. Sie scheint sich hier in ihrer | ||||||
| 35 | größten Sparsamkeit selbst gefallen zu haben und ihre thierische Ausstattung | ||||||
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