Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 326 |
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| 01 | einem andern überläßt. - Welche Masse von Kenntnissen, welche Erfindung | ||||||
| 02 | neuer Methoden würde nun schon vorräthig da liegen, wenn ein | ||||||
| 03 | Archimed, ein Newton, oder Lavoisier mit seinem Fleiß und Talent ohne | ||||||
| 04 | Verminderung der Lebenskraft von der Natur mit einem Jahrhunderte | ||||||
| 05 | durch fortdaurenden Alter wäre begünstigt worden? Nun aber ist das | ||||||
| 06 | Fortschreiten der Gattung in Wissenschaften immer nur fragmentarisch | ||||||
| 07 | (der Zeit nach) und gewährt keine Sicherheit wegen des Rückganges, womit | ||||||
| 08 | es durch dazwischen tretende staatsumwälzende Barbarei immer bedroht | ||||||
| 09 | wird. | ||||||
| 10 | C. | ||||||
| 11 | Eben so wenig scheint die Gattung in Ansehung der Glückseligkeit, | ||||||
| 12 | wozu beständig hin zu streben ihn seine Natur antreibt, die Vernunft aber | ||||||
| 13 | auf die Bedingung der Würdigkeit glücklich zu sein, d. i. der Sittlichkeit, | ||||||
| 14 | einschränkt, ihre Bestimmung zu erreichen. - Man darf eben nicht die | ||||||
| 15 | hypochondrische (übellaunige) Schilderung, die Rousseau vom Menschengeschlecht | ||||||
| 16 | macht, das aus dem Naturzustande herauszugehen wagt, für | ||||||
| 17 | Anpreisung wieder dahin ein und in die Wälder zurück zu kehren, als | ||||||
| 18 | dessen wirkliche Meinung annehmen, womit er die Schwierigkeit für unsere | ||||||
| 19 | Gattung, in das Gleis der continuirlichen Annäherung zu ihrer Bestimmung | ||||||
| 20 | zu kommen, ausdrückte; man darf sie nicht aus der Luft greifen: | ||||||
| 21 | die Erfahrung alter und neuer Zeiten muß jeden Denkenden hierüber verlegen | ||||||
| 22 | und zweifelhaft machen, ob es mit unserer Gattung jemals besser | ||||||
| 23 | stehen werde. | ||||||
| 24 | Seine drei Schriften von dem Schaden, den 1. der Ausgang aus der | ||||||
| 25 | Natur in die Cultur unserer Gattung durch Schwächung unserer Kraft, | ||||||
| 26 | 2. die Civilisirung durch Ungleichheit und wechselseitige Unterdrückung, | ||||||
| 27 | 3. die vermeinte Moralisirung durch naturwidrige Erziehung und Mißbildung | ||||||
| 28 | der Denkungsart angerichtet hat: - diese drei Schriften, sage ich, | ||||||
| 29 | welche den Naturzustand gleich als einen Stand der Unschuld vorstellig | ||||||
| 30 | machten (dahin wieder zurückzukehren der Thorwächter eines Paradieses | ||||||
| 31 | mit feurigem Schwert verhindert), sollten nur seinem Socialcontract, | ||||||
| 32 | seinem Emile und seinem Savoyardischen Vicar zum Leitfaden dienen, | ||||||
| 33 | aus dem Irrsal der Übel sich heraus zu finden, womit sich unsere | ||||||
| 34 | Gattung durch ihre eigene Schuld umgeben hat. - Rousseau wollte im | ||||||
| 35 | Grunde nicht, daß der Mensch wiederum in den Naturzustand zurück | ||||||
| 36 | gehen, sondern von der Stufe, auf der er jetzt steht, dahin zurück sehen | ||||||
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