Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 248 |
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| 01 | von jedem Besitzer der schönen Kunst: man müsse dazu geboren sein | ||||||
| 02 | könne nicht durch Fleiß und Nachahmung dazu gelangen; imgleichen | ||||||
| 03 | daß der Künstler zum Gelingen seiner Arbeit noch einer ihm anwandelnden | ||||||
| 04 | glücklichen Laune, gleich als dem Augenblicke einer Eingebung, bedürfe | ||||||
| 05 | (daher er auch vates genannt wird), weil, was nach Vorschrift und | ||||||
| 06 | Regeln gemacht wird, geistlos (sklavisch) ausfällt, ein Product der schönen | ||||||
| 07 | Kunst aber nicht blos Geschmack, der auf Nachahmung gegründet sein | ||||||
| 08 | kann, sondern auch Originalität des Gedanken erfordert, die, als aus sich | ||||||
| 09 | selbst belebend, Geist genannt wird. - Der Naturmaler mit dem | ||||||
| 10 | Pinsel oder der Feder (das letztere sei in Prose oder in Versen) ist nicht | ||||||
| 11 | der schöne Geist, weil er nur nachahmt; der Ideenmaler ist allein der | ||||||
| 12 | Meister der schönen Kunst. | ||||||
| 13 | Warum versteht man unter dem Poeten gewöhnlich einen Dichter in | ||||||
| 14 | Versen, d. i. in einer Rede, die scandirt (der Musik ähnlich, tactmäßig, | ||||||
| 15 | gesprochen) wird? Weil er, ein Werk der schönen Kunst ankündigend, mit | ||||||
| 16 | einer Feierlichkeit auftritt, die dem feinsten Geschmack (der Form nach) | ||||||
| 17 | genügen muß; denn sonst wäre es nicht schön. - Weil diese Feierlichkeit | ||||||
| 18 | aber am meisten zur schönen Vorstellung des Erhabenen erfordert wird, | ||||||
| 19 | so wird dergleichen affectirte Feierlichkeit ohne Vers (von Hugo Blair) | ||||||
| 20 | "tollgewordene Prose" genannt. - Versmacherei ist anderseits auch | ||||||
| 21 | nicht Poesie, wenn sie ohne Geist ist. | ||||||
| 22 | Warum ist der Reim in den Versen der Dichter neuerer Zeiten, wenn | ||||||
| 23 | er glücklich den Gedanken schließt, ein großes Erforderniß des Geschmacks | ||||||
| 24 | in unserem Welttheil? Dagegen ein widriger Verstoß gegen den Vers in | ||||||
| 25 | Gedichten der alten Zeiten, so daß z. B. im Deutschen reimfreie Verse | ||||||
| 26 | wenig gefallen, ein in Reim gebrachter lateinischer Virgil aber noch | ||||||
| 27 | weniger behagen kann? Vermuthlich weil bei den alten classischen Dichtern | ||||||
| 28 | die Prosodie bestimmt war, den neuern Sprachen aber großentheils | ||||||
| 29 | mangelt, und dann doch das Ohr durch den Reim, der den Vers gleichtönend | ||||||
| 30 | mit dem vorigen schließt, dafür schadlos gehalten wird. In einer | ||||||
| 31 | prosaischen feierlichen Rede wird ein von ungefähr zwischen andre Sätze | ||||||
| 32 | einfallender Reim lächerlich. | ||||||
| 33 | Woher schreibt sich die poetische Freiheit, die doch dem Redner | ||||||
| 34 | nicht zusteht, dann und wann wider die Sprachgesetze zu verstoßen? Vermuthlich | ||||||
| 35 | davon, daß er durch das Gesetz der Form nicht gar zu sehr beengt | ||||||
| 36 | werde, einen großen Gedanken auszudrücken. | ||||||
| 37 | Warum ist ein mittelmäßiges Gedicht unleidlich, eine mittelmäßige | ||||||
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