Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 218 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
Verknüpfungen:
|
|
||||
| 01 | eher der Spornen, als des Zügels. Selbst die heftigste und anhaltendste | ||||||
| 02 | Anstrengung in diesem Punkt kann wohl das Gemüth ermüden, so daß | ||||||
| 03 | der Mensch darüber gar der Wissenschaft gram wird, aber es nicht verstimmen, | ||||||
| 04 | wo es nicht vorher schon verschroben war und daher Geschmack | ||||||
| 05 | an mystischen Büchern und an Offenbarungen fand, die über den gesunden | ||||||
| 06 | Menschenverstand hinausgehen. Dahin gehört auch der Hang, sich dem | ||||||
| 07 | Lesen der Bücher, die eine gewisse heilige Salbung erhalten haben, blos | ||||||
| 08 | dieses Buchstabens halber, ohne das Moralische dabei zu beabsichtigen, | ||||||
| 09 | ganz zu widmen, wofür ein gewisser Autor den Ausdruck: "Er ist schrifttoll" | ||||||
| 10 | ausgefunden hat. | ||||||
| 11 | Ob es einen Unterschied zwischen der allgemeinen Tollheit ( delirium | ||||||
| 12 | generale ) und der an einem bestimmten Gegenstande haftenden ( delirium | ||||||
| 13 | circa obiectum ) gebe, daran zweifle ich. Die Unvernunft (die etwas | ||||||
| 14 | Positives, nicht bloßer Vernunftmangel ist) ist eben sowohl wie die Vernunft | ||||||
| 15 | eine bloße Form, der die Objecte können angepaßt werden, und | ||||||
| 16 | beide sind also aufs Allgemeine gestellt. Was nun aber beim Ausbruche | ||||||
| 17 | der verrückten Anlage (der gemeiniglich plötzlich geschieht) dem Gemüthe | ||||||
| 18 | zuerst in den Wurf kommt (die zufällig aufstoßende Materie, worüber | ||||||
| 19 | nachher gefaselt wird), darüber schwärmt nun der Verrückte fortan vorzüglich: | ||||||
| 20 | weil es durch die Neuigkeit des Eindrucks stärker, als das übrige | ||||||
| 21 | Nachfolgende in ihm haftet. | ||||||
| 22 | Man sagt auch von jemanden, dem es im Kopfe übergesprungen ist: | ||||||
| 23 | "Er hat die Linie passirt"; gleich als ob ein Mensch, der zum erstenmal | ||||||
| 24 | die Mittellinie des heißen Weltstrichs überschreite, in Gefahr sei, den | ||||||
| 25 | Verstand zu verlieren. Aber das ist nur Mißverstand. Es will nur soviel | ||||||
| 26 | sagen als: der Geck, der ohne lange Mühe durch eine Reise nach | ||||||
| 27 | Indien auf einmal Gold zu fischen hofft, entwirft schon hier als Narr seinen | ||||||
| 28 | Plan; während dessen Ausführung aber wächst die junge Tollheit, | ||||||
| 29 | und bei seiner Zurückkunft, wenn ihm auch das Glück hold gewesen, zeigt | ||||||
| 30 | sie sich entwickelt in ihrer Vollkommenheit. | ||||||
| 31 | Der Verdacht, daß es mit jemandes Kopf nicht richtig sei, fällt schon | ||||||
| 32 | auf den, der mit sich selbst laut spricht, oder darüber ertappt wird, daß | ||||||
| 33 | er für sich im Zimmer gesticulirt. - Mehr noch, wenn er sich mit Eingebungen | ||||||
| [ Seite 217 ] [ Seite 219 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||