Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 114 |
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| 01 | derer geben muß, die sich jenem ganz widmen, weil ohne Metaphysik überhaupt | ||||||
| 02 | es gar keine Philosophie geben könnte. | ||||||
| 03 | Hieraus ist auch zu erklären, wie jemand für sein Alter gesund zu | ||||||
| 04 | sein sich rühmen kann, ob er zwar in Ansehung gewisser ihm obliegenden | ||||||
| 05 | Geschäfte sich in die Krankenliste mußte einschreiben lassen. Denn weil | ||||||
| 06 | das Unvermögen zugleich den Gebrauch und mit diesem auch den Verbrauch | ||||||
| 07 | und die Erschöpfung der Lebenskraft abhält, und er gleichsam nur | ||||||
| 08 | in einer niedrigeren Stufe (als vegetirendes Wesen) zu leben gesteht, | ||||||
| 09 | nämlich essen, gehen und schlafen zu können, was für seine animalische | ||||||
| 10 | Existenz gesund, für die bürgerliche (zu öffentlichen Geschäften verpflichtete) | ||||||
| 11 | Existenz aber krank, d.i. invalid, heißt: so widerspricht sich dieser Candidat | ||||||
| 12 | des Todes hiemit gar nicht. | ||||||
| 13 | Dahin führt die Kunst das menschliche Leben zu verlängern: daß | ||||||
| 14 | man endlich unter den Lebenden nur so geduldet wird, welches eben nicht | ||||||
| 15 | die ergötzlichste Lage ist. | ||||||
| 16 | Hieran aber habe ich selber Schuld. Denn warum will ich auch der | ||||||
| 17 | hinanstrebenden jüngeren Welt nicht Platz machen und, um zu leben, mir | ||||||
| 18 | den gewöhnten Genuß des Lebens schmälern: warum ein schwächliches | ||||||
| 19 | Leben durch Entsagungen in ungewöhnliche Länge ziehen, die Sterbelisten, | ||||||
| 20 | in denen doch auf den Zuschnitt der von Natur Schwächeren und | ||||||
| 21 | ihre muthmaßliche Lebensdauer mit gerechnet ist, durch mein Beispiel in | ||||||
| 22 | Verwirrung bringen und das alles, was man sonst Schicksal nannte (dem | ||||||
| 23 | man sich demüthig und andächtig unterwarf), dem eigenen festen Vorsatze | ||||||
| 24 | unterwerfen; welcher doch schwerlich zur allgemeinen diätetischen Regel, | ||||||
| 25 | nach welcher die Vernunft unmittelbar Heilkraft ausübt, aufgenommen | ||||||
| 26 | werden und die therapeutische Formeln der Officin jemals verdrängen | ||||||
| 27 | wird? | ||||||
| 28 | Nachschrift. |
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| 29 | Den Verfasser der Kunst das menschliche (auch besonders das literärische) | ||||||
| 30 | Leben zu verlängern darf ich also dazu wohl auffordern, daß er wohlwollend | ||||||
| 31 | auch darauf bedacht sei, die Augen der Leser (vornehmlich der | ||||||
| 32 | jetzt großen Zahl der Leserinnen, die den Übelstand der Brille noch härter | ||||||
| 33 | fühlen dürften) in Schutz zu nehmen, auf welche jetzt aus elender Ziererei | ||||||
| 34 | der Buchdrucker (denn Buchstaben haben doch als Malerei schlechterdings | ||||||
| 35 | nichts Schönes an sich) von allen Seiten Jagd gemacht wird: damit nicht, | ||||||
| 36 | so wie in Marokko durch weiße Übertünchung aller Häuser ein großer | ||||||
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