Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 085

   
         
 

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6.
   
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Von einer Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische
   
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Tendenz des Menschengeschlechts beweiset.
   
         
  04 Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten    
  05 Thaten oder Unthaten, wodurch, was groß war, unter Menschen    
  06 klein oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie gleich als durch    
  07 Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren    
  08 Statt wie aus den Tiefen der Erde hervorkommen. Nein: nichts von allem    
  09 dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem    
  10 Spiele großer Umwandlungen öffentlich verräth und eine so allgemeine    
  11 und doch uneigennützige Theilnehmung der Spielenden auf einer Seite gegen    
  12 die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen    
  13 sehr nachtheilig werden, dennoch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit    
  14 wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im Ganzen und zugleich    
  15 (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben    
  16 wenigstens in der Anlage beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren    
  17 nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist, so weit das Vermögen    
  18 desselben für jetzt zureicht.    
         
  19 Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen    
  20 haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend    
  21 und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch    
  22 sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen    
  23 hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen    
  24 würde, -diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern    
  25 aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt    
  26 sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm    
  27 grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also    
  28 keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache    
  29 haben kann.    
         
  30 Diese moralische einfließende Ursache ist zwiefach: erstens die des    
  31 Rechts, daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse,    
  32 sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein    
  33 dünkt; zweitens die des Zwecks (der zugleich Pflicht ist), daß diejenige    
  34 Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch=gut sei,    
  35 welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen    
  36 zu meiden, welche keine andere als die republicanische Verfassung,    
         
     

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