Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 080 |
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| 01 | möglich? -Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber | ||||||
| 02 | macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt. | ||||||
| 03 | Jüdische Propheten hatten gut weissagen, daß über kurz oder lang | ||||||
| 04 | nicht bloß Verfall, sondern gänzliche Auflösung ihrem Staat bevorstehe; | ||||||
| 05 | denn sie waren selbst die Urheber dieses ihres Schicksals. -Sie hatten | ||||||
| 06 | als Volksleiter ihre Verfassung mit so viel kirchlichen und daraus abfließenden | ||||||
| 07 | bürgerlichen Lasten beschwert, daß ihr Staat völlig untauglich | ||||||
| 08 | wurde, für sich selbst, vornehmlich mit benachbarten Völkern zusammen zu | ||||||
| 09 | bestehen, und die Jeremiaden ihrer Priester mußten daher natürlicher | ||||||
| 10 | Weise vergeblich in der Luft verhallen: weil diese hartnäckicht auf ihrem | ||||||
| 11 | Vorsatz einer unhaltbaren, von ihnen selbst gemachten Verfassung beharrten, | ||||||
| 12 | und so von ihnen selbst der Ausgang mit Unfehlbarkeit vorausgesehen | ||||||
| 13 | werden konnte. | ||||||
| 14 | Unsere Politiker machen, so weit ihr Einfluß reicht, es eben so und | ||||||
| 15 | sind auch im Wahrsagen eben so glücklich. - Man muß, sagen sie, die | ||||||
| 16 | Menschen nehmen, wie sie sind, nicht wie der Welt unkundige Pedanten | ||||||
| 17 | oder gutmüthige Phantasten träumen, daß sie sein sollten. Das wie sie | ||||||
| 18 | sind aber sollte heißen: wozu wir sie durch ungerechten Zwang, durch | ||||||
| 19 | verrätherische, der Regierung an die Hand gegebene Anschläge gemacht | ||||||
| 20 | haben, nämlich halsstarrig und zur Empörung geneigt; wo dann freilich, | ||||||
| 21 | wenn sie ihre Zügel ein wenig sinken läßt, sich traurige Folgen eräugnen, | ||||||
| 22 | welche die Prophezeiung jener vermeintlich=klugen Staatsmänner | ||||||
| 23 | wahrmachen. | ||||||
| 24 | Auch Geistliche weissagen gelegentlich den gänzlichen Verfall der Religion | ||||||
| 25 | und die nahe Erscheinung des Antichrists, während dessen sie gerade | ||||||
| 26 | das thun, was erforderlich ist, ihn einzuführen: indem sie nämlich | ||||||
| 27 | ihrer Gemeine nicht sittliche Grundsätze ans Herz zu legen bedacht sind, | ||||||
| 28 | die geradezu aufs Bessern führen, sondern Observanzen und historischen | ||||||
| 29 | Glauben zur wesentlichen Pflicht machen, die es indirect bewirken sollen, | ||||||
| 30 | woraus zwar mechanische Einhelligkeit als in einer bürgerlichen Verfassung, | ||||||
| 31 | aber keine in der moralischen Gesinnung erwachsen kann; alsdann | ||||||
| 32 | aber über Irreligiosität klagen, welche sie selber gemacht haben, die sie | ||||||
| 33 | also auch ohne besondere Wahrsagergabe vorherverkündigen konnten. | ||||||
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