Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 044 |
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| 01 | Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugniß abzulegen gesonnen bin, | ||||||
| 02 | durch die praktische Vernunft geprüft wird, so sehe ich immer darnach, wie | ||||||
| 03 | sie sein würde, wenn sie als allgemeines Naturgesetz gölte. Es ist offenbar, | ||||||
| 04 | in dieser Art würde es jedermann zur Wahrhaftigkeit nöthigen. Denn | ||||||
| 05 | es kann nicht mit der Allgemeinheit eines Naturgesetzes bestehen, Aussagen | ||||||
| 06 | für beweisend und dennoch als vorsetzlich unwahr gelten zu lassen. Eben so | ||||||
| 07 | wird die Maxime, die ich in Ansehung der freien Disposition über mein | ||||||
| 08 | Leben nehme, sofort bestimmt, wenn ich mich frage, wie sie sein müßte, damit | ||||||
| 09 | sich eine Natur nach einem Gesetze derselben erhalte. Offenbar würde | ||||||
| 10 | niemand in einer solchen Natur sein Leben willkürlich endigen können, | ||||||
| 11 | denn eine solche Verfassung würde keine bleibende Naturordnung sein, | ||||||
| 12 | und so in allen übrigen Fällen. Nun ist aber in der wirklichen Natur, so | ||||||
| 13 | wie sie ein Gegenstand der Erfahrung ist, der freie Wille nicht von selbst | ||||||
| 14 | zu solchen Maximen bestimmt, die für sich selbst eine Natur nach allgemeinen | ||||||
| 15 | Gesetzen gründen könnten, oder auch in eine solche, die nach ihnen | ||||||
| 16 | angeordnet wäre, von selbst paßten; vielmehr sind es Privatneigungen, | ||||||
| 17 | die zwar ein Naturganzes nach pathologischen (physischen) Gesetzen, aber | ||||||
| 18 | nicht eine Natur, die allein durch unsern Willen nach reinen praktischen | ||||||
| 19 | Gesetzen möglich wäre, ausmachen. Gleichwohl sind wir uns durch die | ||||||
| 20 | Vernunft eines Gesetzes bewußt, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich | ||||||
| 21 | eine Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maximen unterworfen | ||||||
| 22 | sind. Also muß dieses die Idee einer nicht empirisch=gegebenen | ||||||
| 23 | und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur sein, | ||||||
| 24 | der wir, wenigstens in praktischer Beziehung, objective Realität geben, | ||||||
| 25 | weil wir sie als Object unseres Willens als reiner vernünftiger Wesen | ||||||
| 26 | ansehen. | ||||||
| 27 | Der Unterschied also zwischen den Gesetzen einer Natur, welcher der | ||||||
| 28 | Wille unterworfen ist, und einer Natur, die einem Willen (in | ||||||
| 29 | Ansehung dessen, was Beziehung desselben auf seine freie Handlungen hat) | ||||||
| 30 | unterworfen ist, beruht darauf, daß bei jener die Objecte Ursachen der | ||||||
| 31 | Vorstellungen sein müssen, die den Willen bestimmen, bei dieser aber der | ||||||
| 32 | Wille Ursache von den Objecten sein soll, so daß die Causalität desselben | ||||||
| 33 | ihren Bestimmungsgrund lediglich in reinem Vernunftvermögen liegen | ||||||
| 34 | hat, welches deshalb auch eine reine praktische Vernunft genannt werden | ||||||
| 35 | kann. | ||||||
| 36 | Die zwei Aufgaben also: wie reine Vernunft einerseits a priori | ||||||
| 37 | Objecte erkennen und wie sie andererseits unmittelbar ein Bestimmungsgrund | ||||||
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