Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 418 |
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Text (Kant):
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| 01 | seiner Gewalt sind. Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit | ||||||
| 02 | ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser | ||||||
| 03 | zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig | ||||||
| 04 | sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache | ||||||
| 05 | davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, | ||||||
| 06 | insgesammt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, | ||||||
| 07 | daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein | ||||||
| 08 | Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen | ||||||
| 09 | Zustande erforderlich ist. Nun ists unmöglich, daß das einsehendste | ||||||
| 10 | und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen | ||||||
| 11 | bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle. Will | ||||||
| 12 | er Reichthum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch | ||||||
| 13 | nicht auf den Hals ziehen! Will er viel Erkenntniß und Einsicht, | ||||||
| 14 | vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die | ||||||
| 15 | Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden | ||||||
| 16 | können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, | ||||||
| 17 | die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. | ||||||
| 18 | Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes | ||||||
| 19 | Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch | ||||||
| 20 | Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte | ||||||
| 21 | Gesundheit würde haben fallen lassen, u. s. w.. Kurz, er ist | ||||||
| 22 | nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewißheit zu | ||||||
| 23 | bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum weil hiezu | ||||||
| 24 | Allwissenheit erforderlich sein würde. Man kann also nicht nach bestimmten | ||||||
| 25 | Principien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen | ||||||
| 26 | Rathschlägen, z. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung | ||||||
| 27 | u. s. w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden | ||||||
| 28 | im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, daß die | ||||||
| 29 | Imperativen der Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Handlungen | ||||||
| 30 | objectiv als praktisch=nothwendig darstellen, können, daß sie eher | ||||||
| 31 | für Anrathungen ( consilia ) als Gebote ( praecepta ) der Vernunft zu halten | ||||||
| 32 | sind, daß die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche | ||||||
| 33 | Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, | ||||||
| 34 | völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich | ||||||
| 35 | sei, der im strengen Verstande geböte, das zu thun, was glücklich macht, | ||||||
| 36 | weil Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft | ||||||
| 37 | ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht, von denen man vergeblich | ||||||
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