| Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 534 | |||||||
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| 01 | subjectiv, aber doch nur comparativ zureichend, wenn ich gar keine andere | ||||||
| 02 | Bedingungen weiß, unter denen der Zweck zu erreichen wäre; aber sie ist | ||||||
| 03 | schlechthin und für jedermann zureichend, wenn ich gewiß weiß, daß niemand | ||||||
| 04 | andere Bedingungen kennen könne, die auf den vorgesetzten Zweck | ||||||
| 05 | führen. Im ersten Falle ist meine Voraussetzung und das Fürwahrhalten | ||||||
| 06 | gewisser Bedingungen ein bloß zufälliger, im zweiten Falle aber | ||||||
| 07 | ein nothwendiger Glaube. Der Arzt muß bei einem Kranken, der in Gefahr | ||||||
| 08 | ist, etwas thun, kennt aber die Krankheit nicht. Er sieht auf die Erscheinungen | ||||||
| 09 | und urtheilt, weil er nichts Besseres weiß, es sei die Schwindsucht. | ||||||
| 10 | Sein Glaube ist selbst in seinem eigenen Urtheile bloß zufällig, | ||||||
| 11 | ein anderer möchte es vielleicht besser treffen. Ich nenne dergleichen zufälligen | ||||||
| 12 | Glauben, der aber dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen | ||||||
| 13 | Handlungen zum Grunde liegt, den pragmatischen Glauben. | ||||||
| 14 | Der gewöhnliche Probirstein, ob etwas bloße Überredung, oder wenigstens | ||||||
| 15 | subjective Überzeugung, d. i. festes Glauben, sei, was jemand | ||||||
| 16 | behauptet, ist das Wetten. Öfters spricht jemand seine Sätze mit so zuversichtlichem | ||||||
| 17 | und unlenkbarem Trotze aus, daß er alle Besorgnis des Irrthums | ||||||
| 18 | gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine Wette macht ihn stutzig. | ||||||
| 19 | Bisweilen zeigt sich, daß er zwar Überredung genug, die auf einen Dukaten | ||||||
| 20 | an Werth geschätzt werden kann, aber nicht auf zehn besitze. Denn | ||||||
| 21 | den ersten wagt er noch wohl, aber bei zehnen wird er allererst inne, was | ||||||
| 22 | er vorher nicht bemerkte, daß es nämlich doch wohl möglich sei, er habe | ||||||
| 23 | sich geirrt. Wenn man sich in Gedanken vorstellt, man solle worauf das | ||||||
| 24 | Glück des ganzen Lebens verwetten, so schwindet unser triumphirendes | ||||||
| 25 | Urtheil gar sehr, wir werden überaus schüchtern und entdecken so allererst, | ||||||
| 26 | daß unser Glaube so weit nicht zulange. So hat der pragmatische Glaube | ||||||
| 27 | nur einen Grad, der nach Verschiedenheit des Interesse, das dabei im | ||||||
| 28 | Spiele ist, groß oder auch klein sein kann. | ||||||
| 29 | Weil aber, ob wir gleich in Beziehung auf ein Object gar nichts | ||||||
| 30 | unternehmen können, also das Fürwahrhalten bloß theoretisch ist, wir | ||||||
| 31 | doch in vielen Fällen eine Unternehmung in Gedanken fassen und uns einbilden | ||||||
| 32 | können, zu welcher wir hinreichende Gründe zu haben vermeinen, | ||||||
| 33 | wenn es ein Mittel gäbe, die Gewißheit der Sache auszumachen, so giebt | ||||||
| 34 | es in bloß theoretischen Urtheilen ein Analogon von praktischen, auf | ||||||
| 35 | deren Fürwahrhaltung das Wort Glauben paßt, und den wir den doctrinalen | ||||||
| 36 | Glauben nennen können. Wenn es möglich wäre durch irgend | ||||||
| 37 | eine Erfahrung auszumachen, so möchte ich wohl alles das Meinige darauf | ||||||
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