| Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 507 | |||||||
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| 01 | zu gründen. Äußere Ruhe ist nur scheinbar. Der Keim der Anfechtungen, | ||||||
| 02 | der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet | ||||||
| 03 | werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, | ||||||
| 04 | ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, | ||||||
| 05 | und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst | ||||||
| 06 | auf Einwürfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist, und leihet ihm sogar | ||||||
| 07 | Waffen, oder räumt ihm den günstigsten Platz ein, den er sich nur wünschen | ||||||
| 08 | kann! Es ist hiebei gar nichts zu fürchten, wohl aber zu hoffen, | ||||||
| 09 | nämlich daß ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden | ||||||
| 10 | Besitz verschaffen werdet. | ||||||
| 11 | Zu eurer vollständigen Rüstung gehören nun auch die Hypothesen | ||||||
| 12 | der reinen Vernunft, welche, obzwar nur bleierne Waffen (weil sie durch | ||||||
| 13 | kein Erfahrungsgesetz gestählt sind), dennoch immer so viel vermögen als | ||||||
| 14 | die, deren sich irgend ein Gegner wider euch bedienen mag. Wenn euch | ||||||
| 15 | also wider die (in irgend einer anderen, nicht speculativen Rücksicht) angenommene | ||||||
| 16 | immaterielle und keiner körperlichen Umwandlung unterworfene | ||||||
| 17 | Natur der Seele die Schwierigkeit aufstößt, daß gleichwohl die Erfahrung | ||||||
| 18 | sowohl die Erhebung, als Zerrüttung unserer Geisteskräfte bloß als verschiedene | ||||||
| 19 | Modification unserer Organen zu beweisen scheine: so könnt ihr | ||||||
| 20 | die Kraft dieses Beweises dadurch schwächen, daß ihr annehmt, unser Körper | ||||||
| 21 | sei nichts als die Fundamentalerscheinung, worauf als Bedingung | ||||||
| 22 | sich in dem jetzigen Zustande (im Leben) das ganze Vermögen der Sinnlichkeit | ||||||
| 23 | und hiemit alles Denken bezieht. Die Trennung vom Körper sei | ||||||
| 24 | das Ende dieses sinnlichen Gebrauchs eurer Erkenntnißkraft und der Anfang | ||||||
| 25 | des intellectuellen. Der Körper wäre also nicht die Ursache des | ||||||
| 26 | Denkens, sondern eine bloß restringirende Bedingung desselben, mithin | ||||||
| 27 | zwar als Beförderung des sinnlichen und animalischen, aber desto mehr | ||||||
| 28 | auch als Hinderniß des reinen und spirituellen Lebens anzusehen, und die | ||||||
| 29 | Abhängigkeit des ersteren von der körperlichen Beschaffenheit bewiese nichts | ||||||
| 30 | für die Abhängigkeit des ganzen Lebens von dem Zustande unserer Organen. | ||||||
| 31 | Ihr könnt aber noch weiter gehen und wohl gar neue, entweder | ||||||
| 32 | nicht aufgeworfene, oder nicht weit genug getriebene Zweifel ausfindig | ||||||
| 33 | machen. | ||||||
| 34 | Die Zufälligkeit der Zeugungen, die bei Menschen so wie beim vernunftlosen | ||||||
| 35 | Geschöpfe von der Gelegenheit, überdem aber auch oft vom | ||||||
| 36 | Unterhalte, von der Regierung, deren Launen und Einfällen, oft sogar | ||||||
| 37 | vom Laster abhängt, macht eine große Schwierigkeit wider die Meinung | ||||||
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