Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 490 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
| 01 | lassen; denn nachher, wenn die ächten Grundsätze einmal entwickelt und | ||||||
| 02 | in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jene Falschheit nach und | ||||||
| 03 | nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute | ||||||
| 04 | Gesinnungen unter dem Wucherkraute des schönen Scheins nicht aufkommen | ||||||
| 05 | läßt. | ||||||
| 06 | Es thut mir leid, eben dieselbe Unlauterkeit, Verstellung und Heuchelei | ||||||
| 07 | sogar in den Äußerungen der speculativen Denkungsart wahrzunehmen, | ||||||
| 08 | worin doch Menschen, das Geständniß ihrer Gedanken billigermaßen | ||||||
| 09 | offen und unverhohlen zu entdecken, weit weniger Hindernisse und | ||||||
| 10 | gar keinen Vortheil haben. Denn was kann den Einsichten nachtheiliger | ||||||
| 11 | sein, als sogar bloße Gedanken verfälscht einander mitzutheilen, Zweifel, | ||||||
| 12 | die wir wider unsere eigene Behauptungen fühlen, zu verhehlen, oder Beweisgründen, | ||||||
| 13 | die uns selbst nicht genugthun, einen Anstrich von Evidenz | ||||||
| 14 | zu geben? So lange indessen bloß die Privateitelkeit diese geheimen Ränke | ||||||
| 15 | anstiftet (welches in speculativen Urtheilen, die kein besonderes Interesse | ||||||
| 16 | haben und nicht leicht einer apodiktischen Gewißheit fähig sind, gemeiniglich | ||||||
| 17 | der Fall ist), so widersteht denn doch die Eitelkeit anderer mit öffentlicher | ||||||
| 18 | Genehmigung, und die Sachen kommen zuletzt dahin, wo die | ||||||
| 19 | lauterste Gesinnung und Aufrichtigkeit, obgleich weit früher, sie hingebracht | ||||||
| 20 | haben würde. Wo aber das gemeine Wesen dafür hält, daß spitzfindige | ||||||
| 21 | Vernünftler mit nichts minderem umgehen, als die Grundfeste | ||||||
| 22 | der öffentlichen Wohlfahrt wankend zu machen, da scheint es nicht allein | ||||||
| 23 | der Klugheit gemäß, sondern auch erlaubt und wohl gar rühmlich, der | ||||||
| 24 | guten Sache eher durch Scheingründe zu Hülfe zu kommen, als den | ||||||
| 25 | vermeintlichen Gegnern derselben auch nur den Vortheil zu lassen, | ||||||
| 26 | unsern Ton zur Mäßigung einer bloß praktischen Überzeugung herabzustimmen | ||||||
| 27 | und uns zu nöthigen, den Mangel der speculativen und apodiktischen | ||||||
| 28 | Gewißheit zu gestehen. Indessen sollte ich denken, daß sich mit der | ||||||
| 29 | Absicht, eine gute Sache zu behaupten, in der Welt wohl nichts übler als | ||||||
| 30 | Hinterlist, Verstellung und Betrug vereinigen lasse. Daß es in der Abwiegung | ||||||
| 31 | der Vernunftgründe einer bloßen Speculation alles ehrlich zugehen | ||||||
| 32 | müsse, ist wohl das Wenigste, was man fordern kann. Könnte man | ||||||
| 33 | aber auch nur auf dieses Wenige sicher rechnen, so wäre der Streit der | ||||||
| 34 | speculativen Vernunft über die wichtigen Fragen von Gott, der Unsterblichkeit | ||||||
| 35 | (der Seele) und der Freiheit entweder längst entschieden, oder | ||||||
| [ Seite 489 ] [ Seite 491 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||