Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 328

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Ein jeder von beiden sagt mehr, als er weiß, doch so, daß der erstere      
  02 das Wissen, obzwar zum Nachtheile des Praktischen, aufmuntert und befördert,      
  03 der zweite zwar zum Praktischen vortreffliche Principien an die      
  04 Hand giebt, aber eben dadurch in Ansehung alles dessen, worin uns allein      
  05 ein speculatives Wissen vergönnt ist, der Vernunft erlaubt, idealischen      
  06 Erklärungen der Naturerscheinungen nachzuhängen und darüber die physische      
  07 Nachforschung zu verabsäumen.      
           
  08 Was endlich das dritte Moment, worauf bei der vorläufigen Wahl      
  09 zwischen beiden streitigen Theilen gesehen werden kann, anlangt: so ist      
  10 es überaus befremdlich, daß der Empirismus aller Popularität gänzlich      
  11 zuwider ist, ob man gleich glauben sollte, der gemeine Verstand werde      
  12 einen Entwurf begierig aufnehmen, der ihn durch nichts als Erfahrungserkenntnisse      
  13 und deren vernunftmäßigen Zusammenhang zu befriedigen      
  14 verspricht, an statt daß die transscendentale Dogmatik ihn nöthigt, zu Begriffen      
  15 hinaufzusteigen, welche die Einsicht und das Vernunftvermögen der      
  16 im Denken geübtesten Köpfe weit übersteigen. Aber eben dieses ist sein      
  17 Bewegungsgrund. Denn er befindet sich alsdann in einem Zustande, in      
  18 welchem sich auch der Gelehrteste über ihn nichts herausnehmen kann.      
  19 Wenn er wenig oder nichts davon versteht, so kann sich doch auch niemand      
  20 rühmen, viel mehr davon zu verstehen, und ob er gleich hierüber nicht so      
  21 schulgerecht als andere sprechen kann, so kann er doch darüber unendlich      
  22 mehr vernünfteln, weil er unter lauter Ideen herumwandelt, über die man      
  23 eben darum am beredtsten ist, weil man davon nichts weiß; anstatt      
  24 daß er über der Nachforschung der Natur ganz verstummen und seine Unwissenheit      
  25 gestehen müßte. Gemächlichkeit und Eitelkeit also sind schon eine      
  26 starke Empfehlung dieser Grundsätze. Überdem, ob es gleich einem Philosophen      
  27 sehr schwer wird, etwas als Grundsatz anzunehmen, ohne deshalb      
  28 sich selbst Rechenschaft geben zu können, oder gar Begriffe, deren objective      
  29 Realität nicht eingesehen werden kann, einzuführen: so ist doch dem gemeinen      
  30 Verstande nichts gewöhnlicher. Er will etwas haben, womit er zuversichtlich      
  31 anfangen könne. Die Schwierigkeit, eine solche Voraussetzung      
  32 selbst zu begreifen, beunruhigt ihn nicht, weil sie ihm (der nicht weiß, was      
  33 Begreifen heißt) niemals in den Sinn kommt, und er hält das für bekannt,      
  34 was ihm durch öfteren Gebrauch geläufig ist. Zuletzt aber verschwindet      
  35 alles speculative Interesse bei ihm vor dem praktischen, und er      
           
     

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