Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 271

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 durch Verschwinden annehmen könnte. In seinem Phädon suchte er      
  02 nun diese Vergänglichkeit, welche eine wahre Vernichtung sein würde, von      
  03 ihr dadurch abzuhalten, daß er sich zu beweisen getraute: ein einfaches      
  04 Wesen könne gar nicht aufhören zu sein, weil, da es gar nicht vermindert      
  05 werden und also nach und nach etwas an seinem Dasein verlieren und so      
  06 allmählig in Nichts verwandelt werden könne (indem es keine Theile, also      
  07 auch keine Vielheit in sich habe), zwischen einem Augenblicke, darin es ist,      
  08 und dem andern, darin es nicht mehr ist, gar keine Zeit angetroffen werden      
  09 würde, welches unmöglich ist. - Allein er bedachte nicht, daß, wenn      
  10 wir gleich der Seele diese einfache Natur einräumen, da sie nämlich kein      
  11 Mannigfaltiges außer einander, mithin keine extensive Größe enthält,      
  12 man ihr doch, so wenig wie irgend einem Existirenden, intensive Größe,      
  13 d. i. einen Grad der Realität in Ansehung aller ihrer Vermögen, ja überhaupt      
  14 alles dessen, was das Dasein ausmacht, ableugnen könne, welcher      
  15 durch alle unendlich viele kleinere Grade abnehmen und so die vorgebliche      
  16 Substanz (das Ding, dessen Beharrlichkeit nicht sonst schon fest steht), obgleich      
  17 nicht durch Zertheilung, doch durch allmählige Nachlassung ( remissio )      
  18 ihrer Kräfte, (mithin durch Elanguescenz, wenn es mir erlaubt ist, mich      
  19 dieses Ausdrucks zu bedienen) in Nichts verwandelt werden könne. Denn      
  20 selbst das Bewußtsein hat jederzeit einen Grad, der immer noch vermindert      
  21 werden kann*), folglich auch das Vermögen sich seiner bewußt zu      
  22 sein und so alle übrige Vermögen. - Also bleibt die Beharrlichkeit der      
  23 Seele, als bloß Gegenstandes des inneren Sinnes, unbewiesen und selbst      
  24 unerweislich, obgleich ihre Beharrlichkeit im Leben, da das denkende Wesen      
  25 (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich      
  26 klar ist, womit aber dem rationalen Psychologen gar nicht Gnüge geschieht,      
           
    *) Klarheit ist nicht, wie die Logiker sagen, das Bewußtsein einer Vorstellung; denn ein gewisser Grad des Bewußtseins, der aber zur Erinnerung nicht zureicht, muß selbst in manchen dunkelen Vorstellungen anzutreffen sein, weil ohne alles Bewußtsein wir in der Verbindung dunkeler Vorstellungen keinen Unterschied machen würden, welches wir doch bei den Merkmalen mancher Begriffe (wie der von Recht und Billigkeit und des Tonkünstlers, wenn er viele Noten im Phantasiren zugleich greift) zu thun vermögen. Sondern eine Vorstellung ist klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht. Reicht dieses zwar zur Unterscheidung, aber nicht zum Bewußtsein des Unterschiedes zu, so müßte die Vorstellung noch dunkel genannt werden. Also giebt es unendlich viele Grade des Bewußtseins bis zum Verschwinden.      
           
     

[ Seite 270 ] [ Seite 272 ] [ Inhaltsverzeichnis ]