Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 337

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Natur. Dieser letztere Umstand ist von besonderer Erheblichkeit.      
  02 Denn in einer Vermuthung nach bloßen Gründen der Vernunft ist es      
  03 eine große Schwierigkeit, wenn man, um den Übelstand zu heben, der      
  04 aus der unvollendeten Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen      
  05 in dieser Welt entspringt, zu einem außerordentlichen göttlichen Willen      
  06 seine Zuflucht nehmen muß: weil, so wahrscheinlich auch das Urtheil über      
  07 denselben nach unseren Begriffen von der göttlichen Weisheit sein mag,      
  08 immer ein starker Verdacht übrig bleibt, daß die schwache Begriffe unseres      
  09 Verstandes vielleicht auf den Höchsten sehr verkehrt übertragen worden,      
  10 da des Menschen Obliegenheit nur ist, von dem göttlichen Willen zu urtheilen      
  11 aus der Wohlgereimtheit, die er wirklich in der Welt wahrnimmt,      
  12 oder welche er nach der Regel der Analogie gemäß der Naturordnung      
  13 darin vermuthen kann, nicht aber nach dem Entwurfe seiner eigenen Weisheit,      
  14 den er zugleich dem göttlichen Willen zur Vorschrift macht, befugt ist,      
  15 neue und willkürliche Anordnungen in der gegenwärtigen oder künftigen      
  16 Welt zu ersinnen.      
           
  17 Wir lenken nunmehr unsere Betrachtung wiederum in den vorigen      
  18 Weg ein und nähern uns dem Ziele, welches wir uns vorgesetzt hatten.      
  19 Wenn es sich mit der Geisterwelt und dem Antheile, den unsere Seele an      
  20 ihr hat, so verhält, wie der Abriß, den wir ertheilten, ihn vorstellt: so      
  21 scheint fast nichts befremdlicher zu sein, als daß die Geistergemeinschaft      
  22 nicht eine ganz allgemeine und gewöhnliche Sache ist, und das Außerordentliche      
  23 betrifft fast mehr die Seltenheit der Erscheinungen, als die      
  24 Möglichkeit derselben. Diese Schwierigkeit läßt sich indessen ziemlich gut      
  25 heben und ist zum Theil auch schon gehoben worden. Denn die Vorstellung,      
  26 die die Seele des Menschen von sich selbst als einem Geiste durch      
  27 ein immaterielles Anschauen hat, indem sie sich in Verhältniß gegen Wesen      
  28 von ähnlicher Natur betrachtet, ist von derjenigen ganz verschieden, da ihr      
  29 Bewußtsein sich selbst als einen Menschen vorstellt durch ein Bild, das      
  30 seinen Ursprung aus dem Eindrucke körperlicher Organen hat, und welches      
  31 in Verhältniß gegen keine andere als materielle Dinge vorgestellt wird.      
  32 Es ist demnach zwar einerlei Subject, was der sichtbaren und unsichtbaren      
  33 Welt zugleich als ein Glied angehört, aber nicht eben dieselbe Person,      
  34 weil die Vorstellungen der einen ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen      
  35 keine begleitende Ideen von denen der andern Welt sind, und daher, was      
           
     

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