Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 238

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Handel mit so schönen Geschöpfen großen Vortheil zu ziehen, indem sie      
  02 solche den leckerhaften Reichen ihres Landes zuführen, und man sieht,      
  03 daß, so sehr auch der Eigensinn des Geschmacks in diesen verschiedenen      
  04 Weltgegenden abweichend sein mag, dennoch dasjenige, was einmal in      
  05 einer derselben als vorzüglich hübsch erkannt wird, in allen übrigen auch      
  06 dafür gehalten werde. Wo aber sich in das Urtheil über die feine Gestalt      
  07 dasjenige einmengt, was in den Zügen moralisch ist, so ist der Geschmack      
  08 bei verschiedenen Mannspersonen jederzeit sehr verschieden, sowohl nachdem      
  09 ihr sittliches Gefühl selbst unterschieden ist, als auch nach der verschiedenen      
  10 Bedeutung, die der Ausdruck des Gesichts in eines jeden Wahne      
  11 haben mag. Man findet, daß diejenige Bildungen, die beim ersten Anblicke      
  12 nicht sonderliche Wirkung thun, weil sie nicht auf eine entschiedene      
  13 Art hübsch sind, gemeiniglich, so bald sie bei näherer Bekanntschaft zu gefallen      
  14 anfangen, auch weit mehr einnehmen und sich beständig zu verschönern      
  15 scheinen; dagegen das hübsche Ansehen, was sich auf einmal ankündigt,      
  16 in der Folge mit größerem Kaltsinn wahrgenommen wird, welches      
  17 vermuthlich daher kommt, daß moralische Reize, wo sie sichtbar werden,      
  18 mehr fesseln, imgleichen weil sie sich nur bei Gelegenheit sittlicher      
  19 Empfindungen in Wirksamkeit setzen und sich gleichsam entdecken lassen,      
  20 jede Entdeckung eines neuen Reizes aber immer noch mehr derselben vermuthen      
  21 läßt; anstatt daß alle Annehmlichkeiten, die sich gar nicht verhehlen,      
  22 nachdem sie gleich Anfangs ihre ganze Wirkung ausgeübt haben,      
  23 in der Folge nichts weiter thun können, als den verliebten Vorwitz abzukühlen      
  24 und ihn allmählig zur Gleichgültigkeit zu bringen.      
           
  25 Unter diesen Beobachtungen bietet sich ganz natürlich folgende Anmerkung      
  26 dar. Das ganz einfältige und grobe Gefühl in den Geschlechterneigungen      
  27 führt zwar sehr grade zum großen Zwecke der Natur, und indem      
  28 es ihre Forderungen erfüllt, ist es geschickt die Person selbst ohne Umschweife      
  29 glücklich zu machen, allein um der großen Allgemeinheit willen      
  30 artet es leichtlich in Ausschweifung und Lüderlichkeit aus. An der anderen      
  31 Seite dient ein sehr verfeinigter Geschmack zwar dazu, einer ungestümen      
  32 Neigung die Wildheit zu benehmen und, indem er solche nur auf sehr      
  33 wenig Gegenstände einschränkt, sie sittsam und anständig zu machen, allein      
  34 sie verfehlt gemeiniglich die große Endabsicht der Natur, und da sie mehr      
  35 fordert oder erwartet, als diese gemeiniglich leistet, so pflegt sie die Person      
  36 von so delicater Empfindung sehr selten glücklich zu machen. Die erstere      
  37 Gemüthsart wird ungeschlacht, weil sie auf alle von einem Geschlechte      
           
     

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