Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 184

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Beraubung möglich. Und in einem solchen Falle ist nicht zu lieben und      
  02 zu hassen nur eine Verschiedenheit in Graden. Alle Unterlassungen, die      
  03 zwar Mängel einer größeren moralischen Vollkommenheit sind, aber nicht      
  04 Unterlassungssünden, sind dagegen nichts als Verneinungen schlechthin      
  05 einer gewissen Tugend und nicht Beraubungen oder Untugend. Von dieser      
  06 Art sind die Mängel der Heiligen und die Fehler edler Seelen. Es fehlt      
  07 ein gewisser größerer Grund der Vollkommenheit, und der Mangel äußert      
  08 sich nicht um der Entgegenwirkung willen.      
           
  09 Man könnte die Anwendung der angeführten Begriffe auf die Gegenstände      
  10 der praktischen Weltweisheit noch sehr erweitern. Verbote sind      
  11 negative Gebote, Strafen negative Belohnungen u. s. w. Allein      
  12 meine Absicht ist für jetzt erreicht, wenn nur der Gebrauch dieses Gedankens      
  13 überhaupt verstanden wird. Ich bemerke wohl: daß Lesern von      
  14 aufgeklärter Einsicht die bisherige Erläuterung weitläuftiger vorkommen      
  15 werde, als nöthig ist. Allein man wird mich entschuldigen, so bald man      
  16 bedenkt, daß es sonst noch ein sehr ungelehriges Geschlecht von Beurtheilern      
  17 gebe, welche, indem sie ihr Leben nur mit einem einzigen Buche      
  18 zubringen, nichts verstehen, als was darin enthalten ist, und in Ansehung      
  19 deren die äußerste Weitläuftigkeit nicht überflüssig ist.      
           
  20 4. Wir wollen noch ein Beispiel aus der Naturwissenschaft entlehnen.      
  21 In der Natur giebt es viel Beraubungen aus dem Conflictus zweier      
  22 wirkenden Ursachen, deren eine die Folge der andern durch reale Entgegensetzung      
  23 aufhebt. Es ist aber oftmals ungewiß, ob es nicht vielleicht bloß      
  24 die Verneinung des Mangels sei, weil eine positive Ursache fehlt, oder ob      
  25 es die Folge der Opposition wahrhafter Kräfte sei, so wie die Ruhe entweder      
  26 der fehlenden Bewegursache, oder dem Streit zweier einander aufhaltenden      
  27 Bewegkräfte beizumessen ist. Es ist z. E. eine berühmte Frage,      
  28 ob die Kälte eine positive Ursache erheische, oder ob sie als ein Mangel      
  29 schlechthin der Abwesenheit der Ursache der Wärme beizumessen sei. Ich      
  30 halte mich, so weit es zu meinem Zwecke dient, hiebei ein wenig auf. Ohne      
  31 Zweifel ist die Kälte selber nur eine Verneinung der Wärme, und es ist      
  32 leicht einzusehen, daß sie an sich selbst auch ohne positiven Grund möglich      
  33 sei. Eben so leicht ist es aber zu verstehen: daß sie auch von einer positiven      
  34 Ursache herrühren könne und wirklich bisweilen daraus entspringe, was      
  35 man auch für eine Meinung vom Ursprunge der Wärme annehmen mag.      
  36 Man kennt keine absolute Kälte in der Natur, und wenn man von ihr redet,      
  37 so versteht man sie nur vergleichungsweise. Nun stimmen Erfahrung      
           
     

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