Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 182

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 scheint. Der Calcul gab diesem gelehrten Manne ein negatives      
  02 Facit, worin ich ihm gleichwohl nicht beistimme.      
           
  03 Aus diesen Gründen kann man die Verabscheuung eine negative      
  04 Begierde, den Haß eine negative Liebe, die Häßlichkeit eine negative      
  05 Schönheit, den Tadel einen negativen Ruhm etc. nennen.      
  06 Man könnte hiebei vielleicht denken: daß dieses alles nur eine Krämerei      
  07 mit Worten sei. Allein nur diejenige werden so Urtheilen, die nicht wissen,      
  08 welcher Vortheil darin steckt, wenn die Ausdrücke zugleich das Verhältniß      
  09 zu schon bekannten Begriffen anzeigen, wovon die mindeste Erfahrenheit      
  10 in der Mathematik jedermann leicht belehren kann. Der Fehler, darin um      
  11 dieser Vernachlässigung willen viele Philosophen verfallen sind, liegt am      
  12 Tage. Man findet, daß sie mehrentheils die Übel wie bloße Verneinungen      
  13 behandeln, ob es gleich nach unsern Erläuterungen offenbar ist: daß es      
  14 Übel des Mangels ( mala defectus ) und Übel der Beraubung ( mala privationis )      
  15 giebt. Die erstern sind Verneinungen, zu deren entgegengesetzter      
  16 Position kein Grund ist, die letztern setzen positive Gründe voraus, dasjenige      
  17 Gute aufzuheben, wozu wirklich ein anderer Grund ist, und sind      
  18 ein negatives Gute. Dieses letztere ist ein viel größeres Übel als das      
  19 erstere. Nicht geben ist in Verhältniß auf den, der bedürftig ist, ein      
  20 Übel, aber Nehmen, Erpressen, Stehlen ist in Absicht auf ihn ein viel      
  21 größeres, und Nehmen ist ein negatives Geben. Man könnte ein      
  22 Ähnliches bei logischen Verhältnissen zeigen. Irrthümer sind negative      
  23 Wahrheiten (man vermenge dieses nicht mit der Wahrheit negativer      
  24 Sätze), eine Widerlegung ist ein negativer Beweis; allein ich besorge      
  25 mich hiebei zu lange aufzuhalten. Es ist meine Absicht nur diese      
  26 Begriffe in den Gang zu bringen, der Nutze wird sich durch den Gebrauch      
  27 finden, und ich werde davon im dritten Abschnitt einige Aussichten      
  28 geben.      
           
  29 3. Die Begriffe der realen Entgegensetzung haben auch ihre nützliche      
  30 Anwendung in der praktischen Weltweisheit. Untugend ( demeritum ) ist      
  31 nicht lediglich eine Verneinung, sondern eine negative Tugend ( meritum      
  32 negativum ). Denn Untugend kann nur Statt finden, in so fern als      
  33 in einem Wesen ein inneres Gesetz ist (entweder bloß das Gewissen oder      
  34 auch das Bewußtsein eines positiven Gesetzes), welchem entgegengehandelt      
  35 wird. Dieses innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung,      
  36 und die Folge kann bloß darum Zero sein, weil diejenige, welche aus dem      
  37 Bewußtsein des Gesetzes allein fließen würde, aufgehoben wird. Es ist      
           
     

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