Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 114

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Blumen antreffen, welche, so viel man äußerlich wahrnehmen kann, mehr      
  02 Nettigkeit und Proportion zeigten, und man sieht gar nichts, was die      
  03 Kunst hervorbringen kann, das da mehr Richtigkeit enthielte, als diese      
  04 Erzeugungen, die die Natur mit so viel Verschwendung über die Erdfläche      
  05 ausstreuet. Und gleichwohl hat sich niemand in den Sinn kommen lassen      
  06 sie von einem besonderen Schneesamen herzuleiten und eine künstliche      
  07 Ordnung der Natur zu ersinnen, sondern man mißt sie als eine Nebenfolge      
  08 allgemeineren Gesetzen bei, welche die Bildung dieses Products mit      
  09 nothwendiger Einheit zugleich unter sich befassen.*)      
           
  10 Gleichwohl ist die Natur reich an einer gewissen andern Art von Hervorbringungen,      
  11 wo alle Weltweisheit, die über ihre Entstehungsart nachsinnt,      
  12 sich genöthigt sieht, diesen Weg zu verlassen. Große Kunst und      
  13 eine zufällige Vereinbarung durch freie Wahl gewissen Absichten gemäß      
  14 ist daselbst augenscheinlich und wird zugleich der Grund eines besondern      
  15 Naturgesetzes, welches zur künstlichen Naturordnung gehört. Der Bau      
  16 der Pflanzen und Thiere zeigt eine solche Anstalt, wozu die allgemeine und      
  17 nothwendige Naturgesetze unzulänglich sind. Da es nun ungereimt sein      
  18 würde die erste Erzeugung einer Pflanze oder Thiers als eine mechanische      
  19 Nebenfolge aus allgemeinen Naturgesetzen zu betrachten, so bleibt gleichwohl      
  20 noch eine doppelte Frage übrig, die aus dem angeführten Grunde      
  21 unentschieden ist: ob nämlich ein jedes Individuum derselben unmittelbar      
  22 von Gott gebauet und also übernatürlichen Ursprungs sei, und nur      
  23 die Fortpflanzung, das ist, der Übergang von Zeit zu Zeit zur Auswickelung      
  24 einem natürlichen Gesetze anvertrauet sei, oder ob einige Individuen      
  25 des Pflanzen= und Thierreichs zwar unmittelbar göttlichen Ursprungs      
  26 seien, jedoch mit einem uns nicht begreiflichen Vermögen, nach einem      
  27 ordentlichen Naturgesetze ihres gleichen zu erzeugen und nicht blos auszuwickeln.      
  28 Von beiden Seiten zeigen sich Schwierigkeiten. Es ist vielleicht      
  29 unmöglich auszumachen, welche die größte sei; allein was uns hier angeht,      
  30 ist nur das Übergewicht der Gründe, in so fern sie metaphysisch sind      
  31 zu bemerken. Wie z. E. ein Baum durch eine innere mechanische Verfassung      
  32 soll vermögend sein den Nahrungssaft so zu formen und zu modeln,      
           
    *) Die den Gewächsen ähnliche Figur des Schimmels hatte viele bewogen denselben unter die Producte des Pflanzenreichs zu zählen. Indessen ist es nach andern Beobachtungen viel wahrscheinlicher, daß die anscheinende Regelmäßigkeit desselben nicht hindern könne, ihn so wie den Baum der Diane als eine Folge aus den gemeinen Gesetzen der Sublimirung anzusehen.      
           
     

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