Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 355

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die Beziehung ihres Ortes in dem Weltgebäude zu dem Mittelpunkte,      
  02 daraus sich die Wärme verbreitet, die alles belebt, verursacht werden?      
  03 Denn es ist gewiß, daß diese unter den Materien dieser Himmelskörper      
  04 nach Proportion ihres Abstandes gewisse Verhältnisse in ihren      
  05 Bestimmungen mit sich führt. Der Mensch, welcher unter allen vernünftigen      
  06 Wesen dasjenige ist, welches wir am deutlichsten kennen, ob      
  07 uns gleich seine innere Beschaffenheit annoch ein unerforschtes Problema      
  08 ist, muß in dieser Vergleichung zum Grunde und zum allgemeinen      
  09 Beziehungspunkte dienen. Wir wollen ihn allhier nicht nach seinen      
  10 moralischen Eigenschaften, auch nicht nach der physischen Einrichtung      
  11 seines Baues betrachten: wir wollen nur untersuchen, was das Vermögen,      
  12 vernünftig zu denken, und die Bewegung seines Leibes, die      
  13 diesem gehorcht, durch die dem Abstande von der Sonne proportionirte      
  14 Beschaffenheit der Materie, an die er geknüpft ist, für Einschränkungen      
  15 leide. Des unendlichen Abstandes ungeachtet, welcher zwischen der      
  16 Kraft, zu denken, und der Bewegung der Materie, zwischen dem vernünftigen      
  17 Geiste und dem Körper anzutreffen ist, so ist es doch gewiß,      
  18 daß der Mensch, der alle seine Begriffe und Vorstellungen von      
  19 den Eindrücken her hat, die das Universum vermittelst des Körpers      
  20 in seiner Seele erregt, sowohl in Ansehung der Deutlichkeit derselben,      
  21 als auch der Fertigkeit, dieselbe zu verbinden und zu vergleichen, welche      
  22 man das Vermögen zu denken nennt, von der Beschaffenheit dieser      
  23 Materie völlig abhängt, an die der Schöpfer ihn gebunden hat.      
           
  24 Der Mensch ist erschaffen, die Eindrücke und Rührungen, die die      
  25 Welt in ihm erregen soll, durch denjenigen Körper anzunehmen, der      
  26 der sichtbare Theil seines Wesens ist, und dessen Materie nicht allein      
  27 dem unsichtbaren Geiste, welcher ihn bewohnt, dient, die ersten Begriffe      
  28 der äußeren Gegenstände einzudrücken, sondern auch in der innern      
  29 Handlung diese zu wiederholen, zu verbinden, kurz, zu denken, unentbehrlich      
  30 ist.*) Nach dem Maße, als sein Körper sich ausbildet, bekommen      
           
    *) Es ist aus den Gründen der Psychologie ausgemacht, daß vermöge der jetzigen Verfassung, darin die Schöpfung Seele und Leib von einander abhängig gemacht hat, die erstere nicht allein alle Begriffe des Universi durch des letztern Gemeinschaft und Einfluß überkommen muß, sondern auch die Ausübung seiner Denkungskraft selber auf dessen Verfassung ankommt und von dessen Beihülfe die nöthige Fähigkeit dazu entlehnt.      
           
     

[ Seite 354 ] [ Seite 356 ] [ Inhaltsverzeichnis ]