Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 223

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Natur zu bemerken und herauszustreichen. Allein indem man die      
  02 Natur von dieser Seite erhebt, so sucht man sie andererseits wiederum      
  03 zu verringern. Diese Wohlgereimtheit, sagt man, ist ihr fremd, sie      
  04 würde, ihren allgemeinen Gesetzen überlassen, nichts als Unordnung zuwege      
  05 bringen. Die Übereinstimmungen zeigen eine fremde Hand, die eine      
  06 von aller Regelmäßigkeit verlassene Materie in einen weisen Plan zu      
  07 zwingen gewußt hat. Allein ich antworte: wenn die allgemeinen Wirkungsgesetze      
  08 der Materie gleichfalls eine Folge aus dem höchsten Entwurfe      
  09 sind, so können sie vermuthlich keine andere Bestimmungen haben,      
  10 als die den Plan von selber zu erfüllen trachten, den die höchste Weisheit      
  11 sich vorgesetzt hat; oder wenn dieses nicht ist, sollte man nicht in      
  12 Versuchung gerathen zu glauben, daß wenigstens die Materie und ihre      
  13 allgemeine Gesetze unabhängig wären, und daß die höchstweise Gewalt,      
  14 die sich ihrer so rühmlichst zu bedienen gewußt hat, zwar groß, aber      
  15 doch nicht unendlich, zwar mächtig, aber doch nicht allgenugsam sei?      
           
  16 Der Vertheidiger der Religion besorgt: daß diejenigen Übereinstimmungen,      
  17 die sich aus einem natürlichen Hang der Materie erklären lassen,      
  18 die Unabhängigkeit der Natur von der göttlichen Vorsehung beweisen      
  19 dürften. Er gesteht es nicht undeutlich: daß, wenn man zu aller Ordnung      
  20 des Weltbaues natürliche Gründe entdecken kann, die dieselbe aus      
  21 den allgemeinsten und wesentlichen Eigenschaften der Materie zu Stande      
  22 bringen können, so sei es unnöthig sich auf eine oberste Regierung zu      
  23 berufen. Der Naturalist findet seine Rechnung dabei, diese Voraussetzung      
  24 nicht zu bestreiten. Er treibt aber Beispiele auf, die die Fruchtbarkeit      
  25 der allgemeinen Naturgesetze an vollkommen schönen Folgen beweisen,      
  26 und bringt den Rechtgläubigen durch solche Gründe in Gefahr, welche      
  27 in dessen Händen zu unüberwindlichen Waffen werden könnten. Ich will      
  28 Beispiele anführen. Man hat schon mehrmals es als eine der deutlichsten      
  29 Proben einer gütigen Vorsorge, die für die Menschen wacht, angeführt:      
  30 daß in dem heißesten Erdstriche die Seewinde gerade zu einer      
  31 solchen Zeit, da das erhitzte Erdreich am meisten ihrer Abkühlung bedarf,      
  32 gleichsam gerufen über das Land streichen und es erquicken. Z. E.      
  33 In der Insel Jamaica, so bald die Sonne so hoch gekommen ist, daß      
  34 sie die empfindlichste Hitze auf das Erdreich wirft, gleich nach 9 Uhr      
  35 Vormittags, fängt sich an aus dem Meer ein Wind zu erheben, der von      
  36 allen Seiten über das Land weht; seine Stärke nimmt nach dem Maße zu,      
  37 als die Höhe der Sonne zunimmt. Um 1 Uhr Nachmittages, da es natürlicher      
           
     

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