Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 199

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Erde, als sie sich aus dem Chaos erhob, war unfehlbar vorher      
  02 in flüssigem Zustande. Nicht allein ihre runde Figur, sondern vornehmlich      
  03 die sphäroidische Gestalt, da die Oberfläche gegen die durch      
  04 die Kraft der Umdrehung veränderte Richtung der Schwere in allen      
  05 Punkten eine senkrechte Stellung annahm, beweisen, daß ihre Masse      
  06 die Fähigkeit gehabt hat sich zu der Figur, die das Gleichgewicht in      
  07 diesem Falle erfordert, von selber zu bequemen. Sie ging aus dem      
  08 flüssigen Zustande in den festen über; und zwar sehen wir unverwerfliche      
  09 Spuren, daß die Oberfläche sich zuerst gehärtet hat, indessen daß      
  10 das Inwendige des Klumpens, in welchem die Elemente nach den Gesetzen      
  11 des Gleichgewichts sich annoch schieden, die untermengte Partikeln      
  12 des elastischen Luftelements unter die gehärtete Rinde immer hinaufschickte      
  13 und weite Höhlen unter ihr zubereitete, worin dieselbe mit mannigfaltigen      
  14 Einbeugungen hineinzusinken, die Unebenheiten der Oberfläche,      
  15 das feste Land, die Gebürge, die geräumige Vertiefungen des      
  16 Meeres und die Scheidung des Trockenen von dem Gewässer hervorzubringen      
  17 veranlaßt wurde. Wir haben ebenso ungezweifelte Denkmaale      
  18 der Natur, welche zu erkennen geben: daß diese Umstürzungen      
  19 in langen Zeitläuften nicht völlig aufgehört haben, welches der Größe      
  20 eines flüssigen Klumpens, wie das Inwendige unserer Erde damals      
  21 war und lange blieb, gemäß ist, in der die Scheidung der Elemente      
  22 und die Absonderung der im gemeinen Chaos vermengten Luft nicht      
  23 so bald vollendet ist, sondern die erzeugte Höhlungen nach und nach      
  24 vergrößert und die Grundfesten der weiten Wölbungen aufs neue wankend      
  25 gemacht und eingestürzt, eben dadurch aber ganze Gegenden, die      
  26 unter der Tiefe des Meeres begraben waren, entblößt und andere dagegen      
  27 versenkt wurden. Nachdem das Inwendige der Erde einen festern      
  28 Stand überkommen und die Ruinen aufgehört hatten, wurde die Oberfläche      
  29 dieser Kugel ein wenig ruhiger, allein sie war noch von dem      
  30 Zustande einer vollendeten Ausbildung weit entfernt; den Elementen      
  31 mußten noch erst ihre gewisse Schranken festgesetzt werden, welche durch      
  32 Verhinderung aller Verwirrung die Ordnung und Schönheit auf der      
  33 ganzen Fläche erhalten könnten. Das Meer erhöhte selber die Ufer      
  34 des festen Landes mit dem Niedersatz der hinaufgetragenen Materien,      
  35 durch deren Wegführung es sein eigenes Bette vertiefte; es warf Dünen      
  36 und Dämme auf, die den Überschwemmungen vorbeugten. Die Ströme,      
  37 welche die Feuchtigkeiten des festen Landes abführen sollten, waren noch      
           
     

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