Kant: AA VIII, Über ein vermeintes Recht ... , Seite 425

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.
     
           
  02 In der Schrift: Frankreich im Jahr 1797, sechstes Stück, Nr. I:      
  03 von den politischen Gegenwirkungen, von Benjamin Constant, ist      
  04 Folgendes S. 123 enthalten.      
           
  05 "Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht die Wahrheit zu sagen,      
  06 würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft      
  07 zur Unmöglichkeit machen. Den Beweis davon haben wir in      
  08 den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus      
  09 diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: daß die      
  10 Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter      
  11 Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein      
  12 würde"*).      
           
  13 Der französische Philosoph widerlegt S. 124 diesen Grundsatz auf      
  14 folgende Art: "Es ist eine Pflicht die Wahrheit zu sagen. Der Begriff      
  15 von Pflicht ist unzertrennbar von dem Begriff des Rechts. Eine Pflicht      
  16 ist, was bei einem Wesen den Rechten eines anderen entspricht. Da, wo      
  17 es keine Rechte giebt, giebt es keine Pflichten. Die Wahrheit zu sagen, ist      
  18 also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die      
  19 Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die      
  20 anderen schadet."      
           
  21 Das πρωτον ψεyδοσ liegt hier in dem Satze: "Die Wahrheit zu      
  22 sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein      
  23 Recht auf die Wahrheit hat."      
           
           
    *) "I. D. Michaelis in Göttingen hat diese seltsame Meinung noch früher vorgetragen als Kant. Daß Kant der Philosoph sei, von dem diese Stelle redet, hat mir der Verfasser dieser Schrift selbst gesagt." K. Fr. Cramer +).      
           
    +) Daß dieses wirklich an irgend einer Stelle, deren ich mich aber jetzt nicht mehr besinnen kann, von mir gesagt worden, gestehe ich hiedurch. I. Kant.      
           
     

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