Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 144

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 sieht. Denn ob es sich gleich mit dem Vernunftglauben ganz wohl      
  02 verträgt, einzuräumen: daß speculative Vernunft selbst nicht einmal die      
  03 Möglichkeit eines Wesens, wie wir Gott denken müssen, einzusehen      
  04 im Stande sei: so kann es doch mit gar keinem Glauben und überall      
  05 mit keinem Fürwahrhalten eines Daseins zusammen bestehen, da      
  06 Vernunft gar die Unmöglichkeit eines Gegenstandes einsehen und      
  07 dennoch aus anderen Quellen die Wirklichkeit desselben erkennen könnte.      
           
  08 Männer von Geistesfähigkeiten und von erweiterten Gesinnungen!      
  09 Ich verehre eure Talente und liebe euer Menschengefühl. Aber habt      
  10 ihr auch wohl überlegt, was ihr thut, und wo es mit euren Angriffen      
  11 auf die Vernunft hinaus will? Ohne Zweifel wollt ihr, daß Freiheit      
  12 zu denken ungekränkt erhalten werde; denn ohne diese würde es selbst      
  13 mit euren freien Schwüngen des Genies bald ein Ende haben. Wir      
  14 wollen sehen, was aus dieser Denkfreiheit natürlicher Weise werden müsse,      
  15 wenn ein solches Verfahren, als Ihr beginnt, überhand nimmt.      
           
  16 Der Freiheit zu denken ist erstlich der bürgerliche Zwang entgegengesetzt.      
  17 Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben      
  18 könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken      
  19 durch sie gar nicht genommen werden. Allein wie viel und mit welcher      
  20 Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft      
  21 mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen,      
  22 dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere      
  23 Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzutheilen,      
  24 den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das      
  25 einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt,      
  26 und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rath geschafft      
  27 werden kann.      
           
  28 Zweitens wird die Freiheit zu denken auch in der Bedeutung genommen,      
  29 daß ihr der Gewissenszwang entgegengesetzt ist; wo ohne      
           
     

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