Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 164

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Von da an aber, da die christliche Lehre auf Facta, nicht auf bloße      
  02 Vernunftbegriffe gebaut ist, heißt sie nicht mehr blos die christliche Religion,      
  03 sondern der christliche Glaube, der einer Kirche zum Grunde      
  04 gelegt worden. Der Dienst einer Kirche, die einem solchen Glauben      
  05 geweiht ist, ist also zweiseitig; einerseits derjenige, welcher ihr nach dem      
  06 historischen Glauben geleistet werden muß; andrerseits, welcher ihr nach      
  07 dem praktischen und moralischen Vernunftglauben gebührt. Keiner von      
  08 beiden kann in der christlichen Kirche als für sich allein bestehend von dem      
  09 andern getrennt werden; der letztere darum nicht von dem erstern, weil      
  10 der christliche Glaube ein Religionsglaube, der erstere nicht von dem      
  11 letzteren, weil er ein gelehrter Glaube ist.      
           
  12 Der christliche Glaube als gelehrter Glaube stützt sich auf Geschichte      
  13 und ist, so fern als ihm Gelehrsamkeit (objectiv) zum Grunde liegt,      
  14 nicht ein an sich freier und von Einsicht hinlänglicher theoretischer Beweisgründe      
  15 abgeleiteter Glaube ( fides elicita ). Wäre er ein reiner      
  16 Vernunftglaube, so würde er, obwohl die moralischen Gesetze, worauf er      
  17 als Glaube an einen göttlichen Gesetzgeber gegründet ist, unbedingt gebieten,      
  18 doch als freier Glaube betrachtet werden müssen: wie er im      
  19 ersten Abschnitte auch vorgestellt worden. Ja er würde auch noch, wenn      
  20 man das Glauben nur nicht zur Pflicht machte, als Geschichtsglaube ein      
  21 theoretisch freier Glaube sein können, wenn jedermann gelehrt wäre. Wenn      
  22 er aber für jedermann, auch den Ungelehrten gelten soll, so ist er nicht      
  23 bloß ein gebotener, sondern auch dem Gebot blind, d. i. ohne Untersuchung,      
  24 ob es auch wirklich göttliches Gebot sei, gehorchender Glaube      
  25 ( fides servilis ).      
           
  26 In der christlichen Offenbarungslehre kann man aber keineswegs      
  27 vom unbedingten Glauben an geoffenbarte (der Vernunft für sich      
  28 verborgene) Sätze anfangen, und die gelehrte Erkenntniß, etwa bloß als      
  29 Verwahrung gegen einen den Nachzug anfallenden Feind, darauf folgen      
  30 lassen; denn sonst wäre der christliche Glaube nicht bloß fides imperata ,      
  31 sondern sogar servilis . Er muß also jederzeit wenigstens als fides historice      
  32 elicita gelehrt werden, d. i. Gelehrsamkeit mußte in ihr als geoffenbarter      
  33 Glaubenslehre nicht den Nachtrab, sondern den Vortrab ausmachen      
  34 und die kleine Zahl der Schriftgelehrten (Kleriker), die auch      
  35 durchaus der profanen Gelahrtheit nicht entbehren könnten, würde den      
  36 langen Zug der Ungelehrten (Laien), die für sich der Schrift unkundig      
  37 sind (und worunter selbst die weltbürgerlichen Regenten gehören), nach      
           
     

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