Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 118

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 das ganze Speculationsvermögen unserer Vernunft. Aber fürs      
  02 Praktische, wo nämlich nicht gefragt wird, was physisch, sondern was moralisch      
  03 für den Gebrauch unserer freien Willkür das erste sei, wovon wir      
  04 nämlich den Anfang machen sollen, ob vom Glauben an das, was Gott      
  05 unsertwegen gethan hat, oder von dem, was wir thun sollen, um dessen      
  06 (es mag auch bestehen, worin es wolle) würdig zu werden, ist kein Bedenken,      
  07 für das Letztere zu entscheiden.      
           
  08 Denn die Annehmung des ersten Requisits zur Seligmachung, nämlich      
  09 des Glaubens an eine stellvertretende Genugthuung, ist allenfalls bloß      
  10 für den theoretischen Begriff notwendig; wir können die Entsündigung      
  11 uns nicht anders begreiflich machen. Dagegen ist die Nothwendigkeit      
  12 des zweiten Princips praktisch und zwar rein moralisch: wir können sicher      
  13 nicht anders hoffen, der Zueignung selbst eines fremden genugthuenden      
  14 Verdienstes und so der Seligkeit theilhaftig zu werden, als wenn wir uns      
  15 dazu durch unsere Bestrebung in Befolgung jeder Menschenpflicht qualificiren,      
  16 welche letztere die Wirkung unserer eignen Bearbeitung und nicht      
  17 wiederum ein fremder Einfluß sein muß, dabei wir passiv sind. Denn da      
  18 das letztere Gebot unbedingt ist, so ist es auch nothwendig, daß der Mensch      
  19 es seinem Glauben als Maxime unterlege, daß er nämlich von der Besserung      
  20 des Lebens anfange, als der obersten Bedingung, unter der allein      
  21 ein seligmachender Glaube statt finden kann.      
           
  22 Der Kirchenglaube, als ein historischer, fängt mit Recht von dem      
  23 erstern an; da er aber nur das Vehikel für den reinen Religionsglauben      
  24 enthält (in welchem der eigentliche Zweck liegt), so muß das, was in diesem      
  25 als einem praktischen die Bedingung ist, nämlich die Maxime des      
  26 Thuns, den Anfang machen und die des Wissens oder theoretischen      
  27 Glaubens nur die Befestigung und Vollendung der erstern bewirken.      
  28 Hiebei kann noch angemerkt werden: daß nach dem ersten Princip      
  29 der Glaube (nämlich der an eine stellvertretende Genugthuung) dem Menschen      
  30 zur Pflicht, dagegen der Glaube des guten Lebenswandels, als durch      
  31 höhern Einfluß gewirkt, ihm zur Gnade angerechnet werden würde.      
  32 Nach dem zweiten Princip aber ist es umgekehrt. Denn nach diesem ist      
  33 der gute Lebenswandel, als oberste Bedingung der Gnade, unbedingte      
  34 Pflicht, dagegen die höhere Genugthuung eine bloße Gnadensache.      
  35 Dem erstern wirft man (oft nicht mit Unrecht) den gottesdienstlichen      
  36 Aberglauben vor, der einen sträflichen Lebenswandel doch mit der Religion      
  37 zu vereinigen weiß; dem zweiten den naturalistischen Unglauben,      
           
     

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