Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 107

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und selbst die Achtung für die in ihm angenommene Offenbarung schwerlich      
  02 durch Tradition, sondern nur durch Schrift, die selbst wiederum      
  03 als Offenbarung für Zeitgenossen und Nachkommenschaft ein Gegenstand      
  04 der Hochachtung sein muß, hinreichend gesorgt werden kann; denn das      
  05 fordert das Bedürfniß der Menschen, um ihrer gottesdienstlichen Pflicht      
  06 gewiß zu sein. Ein heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade      
  07 bei diesen am meisten), die es nicht lesen, wenigstens sich daraus keinen      
  08 zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Achtung,      
  09 und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden      
  10 Machtspruch: da stehts geschrieben. Daher heißen auch      
  11 die Stellen desselben, die einen Glaubenspunkt darlegen sollen, schlechthin      
  12 Sprüche. Die bestimmten Ausleger einer solchen Schrift sind eben durch      
  13 dieses ihr Geschäft selbst gleichsam geweihte Personen, und die Geschichte      
  14 beweist, daß kein auf Schrift gegründeter Glaube selbst durch die verwüstendsten      
  15 Staatsrevolutionen hat vertilgt werden können, indessen daß      
  16 der, so sich auf Tradition und alte öffentliche Observanzen gründete, in der      
  17 Zerrüttung des Staats zugleich seinen Untergang fand. Glücklich *)! wenn      
  18 ein solches den Menschen zu Händen gekommenes Buch neben seinen Statuten      
  19 als Glaubensgesetzen zugleich die reinste moralische Religionslehre      
  20 mit Vollständigkeit enthält, die mit jenen (als Vehikeln ihrer Inroduction)      
  21 in die beste Harmonie gebracht werden kann, in welchem Falle es sowohl      
  22 des dadurch zu erreichenden Zwecks halber, als wegen der Schwierigkeit,      
  23 sich den Ursprung einer solchen durch dasselbe vorgegangenen Erleuchtung      
  24 des Menschengeschlechts nach natürlichen Gesetzen begreiflich zu machen,      
  25 das Ansehen gleich einer Offenbarung behaupten kann.      
           
  26 Nun noch einiges, was diesem Begriffe eines Offenbarungsglaubens      
  27 anhängt.      
           
  28 Es ist nur eine wahre Religion; aber es kann vielerlei Arten      
  29 des Glaubens geben. - Man kann hinzusetzen, daß in den mancherlei      
  30 sich der Verschiedenheit ihrer Glaubensarten wegen von einander absondernden      
           
    *) Ein Ausdruck für alles Gewünschte oder Wünschenswerthe, was wir doch weder voraussetzen, noch durch unsre Bestrebung nach Erfahrungsgesetzen herbeiführen können; von dem wir also, wenn wir einen Grund nennen wollen, keinen andern als eine gütige Vorsehung anführen können.      
           
     

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