Kant: Briefwechsel, Brief 856, An Carl Gottfried Hagen.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Carl Gottfried Hagen.      
           
  2. April 1800.      
           
  In der Reisebeschreibung eines sich so nennenden Taurinius,*) eines      
  Buchdruckers, der durch Iapan reisete, auf dessen Wahrhaftigkeit man      
  sich verlassen kann, ist eine Stelle, wo er erzählt: "daß geschmolzenes      
  Kupfer über Wasser gegossen darüber ruhig starr werde, dahingegen      
  Wasser über geschmolzenes Kupfer gegossen, dieses gänzlich zersprengen      
  werde", wobey der Professor Ebert in Wittenberg (als Herausgeber jener      
  Reise) in der Anmerkung sagt. "daß ihm dieses unbegreyflich sei, und      
  ein Druckfehler sein müsse"; er also die Richtigkeit dieser Beobachtung      
  bezweifelt. - Ehe man aber die Wirklichkeit dieses Experiments oder      
  Observation verwirft, scheint es doch rathsam zu sein, sie nach der      
  Analogie anderer Beobachtungen zu examiniren. Der Graf von Rumford      
  hat den Versuch gemacht: daß wenn man eine kleine Eistafel      
  unter Wasser durch kleine Holzsplitter (als Streben) auf dem Boden      
  des Gefäßes niedergedrückt erhält: da sie sonst - weil Eis leichter ist      
  als Wasser - im Wasser aufsteigen und oben schwimmen würde, das      
  nun oben schwimmende Eis schnell zerschmilzt; was zum Beweise dient,      
  daß der Wärmestoff, oder die erwärmende Ursache (um hiezu nicht      
  einen hypotetischen Stoff annehmen zu dürfen) aufwärts, d. i. in der      
  Gravitätsanziehung entgegen gesetzter Direction wirke, und es hiedurch      
  begreiflich werde: wie geschmolzenes Kupfer über Wasser (freylich in      
  auf der Oberfläche glitschender, nicht eintröpfelnder Bewegung) gegossen      
  werden könne, weil die Wärme des geschmolzenen Kupfers oder      
  der Stoff, welcher sie erregt, aufwärts, folglich von dem Wasser, womit      
  es übergossen wird, abbewegt ist, da dann das geschmolzene      
  Kupfer über und auf dem Wasser schwimmend das Phänomen einer      
  ruhigen Cristallisirung darbieten würde.      
           
  Es wäre also ein Experiment durch die Geschicklichkeit meines verehrten      
  und geliebten Freundes, des Hrn. Dr. Hagen, zu machen: ob      
  die Taurinische Geschichtserzählung wahrhaft sey oder nicht, und findet      
  sich das erstere, so würde es eine sehr wuechtige Erweiterung in der      
  Physik zur Folge haben.      
           
  - 2. April 1800. I. Kant.      
           
           
           
           
    *) Der Verfasser dieses Buches heißt eigentlich Stirisch und hat jenen Namen aus der Analogie mit dem Worte Stier (Taurus) genommen.      
           
     

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