Kant: Briefwechsel, Brief 820, An Christian Garve. |
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An Christian Garve. | |||||||
Königsberg den 21sten Sept. 1798. | |||||||
Ich eile, Theuerster Freund! den mir den 19 ten Septembr. gewordenen | |||||||
Empfang Ihres liebevollen und seelenstärkenden Buchs und | |||||||
Briefes (bey deren letzterem ich das Datum vermisse) zu melden. | |||||||
Die erschütternde Beschreibung Ihrer körperlichen Leiden, mit der Geisteskraft | |||||||
über sie sich wegzusetzen und fürs Weltbeste noch immer mit Heiterkeit | |||||||
zu arbeiten, verbunden, erregen in mir die größte Bewunderung. | |||||||
- Ich weiß aber nicht, ob, bey einer gleichen Bestrebung meinerseits, | |||||||
das Loos, was mir gefallen ist, von Ihnen nicht noch schmertzhafter | |||||||
empfunden werden möchte, wenn Sie sich darinn in Gedanken versetzten; | |||||||
nämlich für Geistesarbeiten, bey sonst ziemlichen körperlichen | |||||||
Wohlseyn, wie gelähmt zu seyn: den völligen Abschlus meiner Rechnung, | |||||||
in Sachen welche das Ganze der Philosophie (so wohl Zweck | |||||||
als Mittel anlangend) betreffen, vor sich liegen und es noch immer | |||||||
nicht vollendet zu sehen; obwohl ich mir der Thunlichkeit dieser Aufgabe | |||||||
bewust bin: ein Tantalischer Schmertz, der indessen doch nicht | |||||||
hofnungslos ist. - Die Aufgabe, mit der ich mich jetzt beschäftige, betrifft | |||||||
den "Übergang von den metaphys. Anf. Gr. d. N. W. zur Physik". Sie | |||||||
will aufgelöset seyn; weil sonst im System der crit. Philos. eine Lücke | |||||||
seyn würde. Die Ansprüche der Vernunft darauf lassen nicht nach: | |||||||
das Bewustseyn des Vermögens dazu gleichfalls nicht; aber die Befriedigung | |||||||
derselben wird, wenn gleich nicht durch völlige Lähmung | |||||||
der Lebenskraft, doch durch immer sich einstellende Hemmungen derselben | |||||||
bis zur höchsten Ungedult aufgeschoben. | |||||||
Mein Gesundseyn, wie es Ihnen Andere berichtet haben, ist also | |||||||
nicht die des Studirenden, sondern Vegetirenden (Essen, Gehen und | |||||||
schlafen können); und mit dieser reichte, in meinem 75 sten Iahre, für | |||||||
Ihre gütige Aufforderung, daß ich meine dermalige Einsichten in der | |||||||
Philosophie mit denen, zu welchen Sie binnen der Zeit, da wir mit | |||||||
einander freundschaftlich controvertirten, vergleichen möchte mein so genantes | |||||||
Gesundseyn nicht zu; wenn es sich nicht damit etwas bessert: | |||||||
als wozu ich, da meine jetzige Desorganisation vor etwa anderthalb | |||||||
Iahren mit einem Catharr anhob, nicht alle Hofnung aufgegeben habe. | |||||||
Ich gestehe: daß, wenn dieser Fall eintritt, es eine meiner angenehmsten | |||||||
Beschäftigungen seyn wird diese Vereinigung, ich will nicht | |||||||
sagen unserer Gesinnungen, (denn die halte ich für einhellig) sondern | |||||||
der Darstellungsart, darinn wir uns vielleicht einander nur misverstehen | |||||||
mögen - zu versuchen; wozu ich denn, in langsamer Durchlesung | |||||||
Ihres Buchs, bereits den Anfang gemacht habe. | |||||||
Beym flüchtigen Durchblättern desselben bin ich auf die Note S. 339 | |||||||
gestoßen: in Ansehung deren ich protestiren muß. - Nicht die Untersuchung | |||||||
vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen | |||||||
von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: | |||||||
"Die Welt hat einen Anfang -: sie hat keinen Anfang etc. bis zur | |||||||
vierten : Es ist Freyheit im Menschen, - gegen den: es ist keine Freyheit, | |||||||
sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit"; diese war es welche | |||||||
mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik | |||||||
der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs | |||||||
der Vernunft mit ihr selbst zu heben. | |||||||
Mit der vollkommensten Zuneigung und Hochachtung bin ich | |||||||
jederzeit | |||||||
Ihr | |||||||
ergebenster treuer Diener | |||||||
I Kant | |||||||
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