Kant: Briefwechsel, Brief 818, Von Christian Garve.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Christian Garve.      
           
  [Mitte September 1798.]      
           
  (Zueignung.)      
           
  Ich habe diese Abhandlung, welche, als eine Einleitung, zu der      
  jetzt eben herauskommenden Uebersetzung der beyden ersten Bücher der      
  Aristotelischen Moral gehört, besonders abdrucken lassen, um sie Ihnen      
  zuzueignen. Ich glaube Ihnen dadurch den höchsten Beweis von meiner      
  Hochachtung zu geben, zuerst, weil ich diese Arbeit unter Schmerzen      
  und Schwächen, während der grausamsten Krankheit, durch welche die      
  Natur langsam ihr Geschöpf zerstört, in welcher sie aber, um seine Geduld      
  zu stärken, ihm den Gebrauch seiner Gemüthskräfte frey läßt, ausgearbeitet      
  habe, und weil ich, eben wegen der dabey überwundenen Schwierigkeit,      
  auf sie einigen Werth lege; und zweytens, weil ich Ihnen dadurch      
  zeige, wie fähig ich Sie halte, ein freymüthiges Urtheil von Ihren Schriften,      
  von Seiten eines Mannes, an welchem Sie Wahrheitsliebe und Unparteylichkeit      
  erkennen, nicht nur zu ertragen, sondern auch gerne zu sehen und      
  zu schätzen. Sie wissen, daß ich nicht lange nach der ersten Herausgabe      
  Ihres großen Werkes, in einen Briefwechsel mit Ihnen gerieth, der durch      
  das erste über Ihr Werk erschienene öffentliche Urtheil, - in der That ein      
           
  sehr mangelhaftes, einseitiges und unrichtiges, - an welchem ich einigen      
  Antheil hatte, veranlaßt wurde: und das Andenken an diese kurze,      
  aber einer persönlichen Bekanntschaft näher kommende Verbindung ist      
  mir noch sehr viel werth. Die Art, mit welcher Sie meine Aufrichtigkeit,      
  mit der ich Ihnen diesen Antheil eröffnete, und die Rechtfertigung,      
  durch welche ich Ihnen zeigte, wie gering und unwillkührlich      
  dieser Antheil gewesen sey, aufnahmen, ließ mich die Gute und      
  den Edelmuth ihres Charakters entdecken, da ich bis dahin nur den      
  Umfang und die Tiefe Ihres Geistes gekannt hatte. Ich wünschte      
  nun noch, am Ziele meines Lebens, oder während meiner Annäherung      
  zu demselben, in diese Verbindung mit Ihnen zurückzutreten.      
  Ich weiß gewiß, daß Sie mein Verlangen darnach auf eine ähnliche      
  Weise, wie ehedem, beantworten werden; und ich wünsche es, bey einem      
  solchen Zustande meines Geistes, als der gegenwärtige ist, zu erfahren,      
  wie Sie über diese Schrift urtheilen, und noch mehr, welche Gesinnung      
  sie Ihnen gegen mich eingeflößt hat. Ich sage nichts von ihr selbst:      
  sie liegt vor Ihren Augen. Ich bin überzeugt, daß ich an sehr vielen      
  Orten in der Auffassung Ihrer Ideen geirrt, und besonders meine eigenen      
  mit eingemischt habe: ich bin noch mehr überzeugt, daß meine      
  Gegengründe noch weit mehr Unrichtigkeiten enthalten, und daß ich      
  Kennern der Philosophie viele Blößen gebe. Indeß wird Sie das      
  nicht abhalten, Nachforschungen nach der Wahrheit zu schätzen, auch      
  wenn die Wahrheit nicht gefunden ist; es wird Sie nicht abhalten,      
  den Fleiß und die Sorgfalt zu erkennen, welchen ich auf das Studium      
  Ihrer Schriften gewandt habe; und Sie werden wenigstens den Leichtsinn,      
  die Kürze, und die Oberflächlichkeit jener ersten Recension, dieser      
  meiner letzten nicht zuschreiben können.      
           
  Sie sind, theurer Mann, so viel ich weiß, in einem hohen Alter,      
  und Sie genießen eines gesunden Alters. Die Natur hat Sie mit großen      
  Geistesgaben ausgerüstet, und sie hat Ihnen auch Gesundheit und körperliche      
  Kräfte gegeben, um jene Gaben in einem langen Leben zum      
  Besten der Welt und der Wissenschaften anzuwenden. Mir ist nicht      
  ein so glückliches Loos in der Lotterie des Lebens gefallen. Mit einigen      
  glücklichen Naturanlagen geboren, und durch ein anhaltendes Studium      
  mit den Wissenschaften vertrauter geworden, bin ich doch, durch      
  das beständige Kämpfen mit einem kränklichen Körper, in meinem eignen      
  Fortgange in Kenntnissen und in den Arbeiten, durch welche ich      
           
  dem Publikum nützen wollte, sehr zurückgesetzt worden. Der Genu      
  der Wissenschaften, das Lernen und die Mittheilung des Erlernten ist      
  indeß immer der angenehmste Genuß meines Lebens gewesen. Auch      
  in dieser letzten, traurigsten Periode desselben, ist mir die noch übrige      
  Fähigkeit zu Denken und mein Vergnügen daran dasjenige, welches      
  mich am meisten unterstützt. Wünschen Sie mit mir, daß ich diesen      
  Trost nicht verliere, oder daß der lange gespannte Faden endlich reiße,      
  oder einige Erleichterung meiner Uebel mir die Ertragung derselben      
  leichter mache.      
           
  Bleiben Sie noch lange gesund, und zum Arbeiten aufgelegt: und      
  wenn Sie zuweilen an mich zu denken veranlaßt werden, so schenken      
  Sie mir einige Thränen des Mitleidens, oder lassen Sie Sich durch      
  einige Empfindungen von Freundschaft und Achtung für mich erwärmen.      
  Bey mir sind diese Gesinnungen gegen Sie schon alt: sie werden      
  auch bis ans Ende meines Lebens unverändert bleiben.      
           
  Garve.      
           
           
           
     

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