Kant: Briefwechsel, Brief 708, Von Gottlieb Schlegel.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Gottlieb Schlegel.      
           
  8. Iuni 1796.      
           
  Wohlgeborner und Hochgelahrter Herr,      
  Hochzuehrender Herr Professor!      
           
  Ein junger Kaufmann Kayser, der das Glück gehabt hat, mehrere      
  Male von Ew. Wohlgebornen Einsichten Nutzen zu ziehen, hat mich      
  durch die Meldung Ihres geneigten Andenkens an mich sehr erfreuet,      
  welches ihm der junge G. Motherby mitgetheilt hatte. Was mich      
  betrift: so versichre ich Sie auf das theureste, daß mich bey meinem      
  jetzt gleichfalls in die Höhe steigenden Alter die Erinnerung recht sehr      
  ergötzt, wie ich in den jüngeren Iahren das Vergnügen genoßen habe,      
  mit Ew. Wohlgebornen zu Königsberg zu leben und durch Ihr Beyspiel      
  ermuntert worden zu seyn. Voll Unpartheylichkeit bekenne ich,      
  Ihre Werke nicht allein studiert zu haben, sondern auch den Grundsätzen      
  unbefangnen Beyfall zu geben. Der moralische VernunftGrundsatz,      
  den Sie so warm und nachdrücklich empfohlen haben, ist      
  immer von mir erkannt worden, wie einige in der Bibliothek des      
  Prof. Lossius recensirte Schriften zeigen, indem ich stets dem Princip      
  der eignen Wohlfahrt abgeneigt gewesen bin; trage ihn auch in den      
  theologischmoralischen Vorlesungen vor, pflege ihn aber also auszudrücken:      
  Handle nach dem Ausspruch der Vernunft, zufolge einer lautern      
  Betrachtung der Dinge. Ich habe darüber auch eine Abhandlung      
  aufgesetzt, worinn ich diese Vorstellung des Moralprincips erläutert      
  habe. Ich habe oft gewünscht, daß Ew. Wohlgebornen einige Zweifel,      
  die von manchen Gelehrten gegen etliche Lehrsätze gemacht worden      
  sind, selbst aufzulösen belieben möchten.      
           
  Über eines möchte ich wagen, Ew. Wohlgebornen Urtheil und      
  Belehrung ergebenst zu erbitten. Als einem Theologen ist mir der      
           
  Gedanke oft nahe gekommen, daß ich ihn gern weiter entwickeln wollte;      
  daß die Gewißheit der menschlichen Erkenntniß (auch der      
  theoretischen) durch die Annahme des Daseyns Gottes bestärkt      
  werde; nämlich, daß die Untersuchung der Gewißheit der Erkenntniß      
  auf das Daseyn Gottes führe, und der Glaube an Gott zur Beruhigung      
  in Ansehung der Ungewißheit des menschlichen Wissens beytrage.      
           
  Sollten schon Anleitungen hierüber, es sey vom pro oder contra,      
  in Ihren Schriften vorkommen: so bitte ich Sie, vortreflicher Mann!      
  dieselben mir anzuzeigen, weil die Menge meiner Geschäfte und meine      
  Lectüren über vielerley andre Gegenstände mir verbieten, alles aufzufinden      
  und zu behalten.      
           
  Wenn Ew. Wohlgebornen mir die Güte wiederfahren laßen wollen,      
  mir einige Ideen über diese Sätze mitzutheilen: so werden Sie mir      
  eine große Gefälligkeit erweisen und meinen ganzen Dank auffodern.      
  Ich habe es dem Herrn Kayser aufgetragen, Dero geneigtes Schreiben      
  an mich zu besorgen, um Sie nicht zu beschweren. Ich wünsche Ihnen      
  von ganzem Herzen noch lange Leben, Gesundheit und Heiterkeit, und      
  ich werde bis ans Ende des Lebens mit der vollkommensten Verehrung      
  verharren      
           
    Ew. Wohlgebornen      
  Greifswald,        
  den 8 Iunius 1796 ergebenster Diener,      
    Gottl. Schlegel.      
           
           
           
     

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