Kant: Briefwechsel, Brief 671, An Samuel Thomas Soemmerring. |
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An Samuel Thomas Soemmerring. | |||||||
10. Aug. 1795. | |||||||
Sie haben theuerster Mann, als der erste philosophische Zergliederer | |||||||
des Sichtbaren am Menschen, mir, der ich mit der Zergliederung | |||||||
des Unsichtbaren an demselben beschäftigt bin, die Ehre der | |||||||
Zueignung Ihrer vortrefflichen Abhandlung, vermuthlich als Aufforderung | |||||||
zur Vereinigung beider Geschäfte zum gemeinsamen Zwecke, | |||||||
bewiesen. | |||||||
Mit dem herzlichen Danke für dieses Ihr Zutrauen lege ich den | |||||||
Entwurf, von der Vereinbarkeit einerseits und der Unvereinbarkeit | |||||||
beider Absichten andererseits, hiermit bei; mit der Erklärung, davon | |||||||
nach Ihrem Gutbefinden allen beliebigen, allenfalls öffentlichen, Gebrauch | |||||||
zu machen. | |||||||
Bei Ihrem Talent und blühender Kraft, Ihren noch nicht weit | |||||||
vorgeschrittenen Iahren, hat die Wissenschaft von Ihnen noch große | |||||||
Erweiterung zu hoffen; als wozu ich Gesundheit und Gemächlichkeit | |||||||
von Herzen wünsche, indessen daß der Ablauf der meinigen von mir | |||||||
nur wenig mehr erwarten läßt, als die Belehrung Anderer noch so | |||||||
viel als möglich zu benutzen. | |||||||
Königsberg, d. 10. Aug. 1795. | Ihr | ||||||
Verehrer und ergebenster Diener | |||||||
I. Kant. | |||||||
[Beilage.] | |||||||
Gedruckt als Anhang zu Sömmerring, Über das Organ der Seele. Königsberg | |||||||
1796. S. 81-86. | |||||||
Sie legen mir, Würdiger Mann! Ihr vollendetes Werk über ein | |||||||
gewisses Princip der Lebenskraft in thierischen Körpern, welches, von | |||||||
Seiten des bloßen Wahrnehmungsvermögens, das unmittelbare | |||||||
Sinnenwerkzeug (πρωτον Αισθητηριον), von Seiten der Vereinigung | |||||||
aller Wahrnehmungen aber in einem gewissen Theile des Gehirns, der | |||||||
gemeinsame Empfindungsplatz ( sensorium commune ) genannt wird, | |||||||
zur Beurtheilung vor: welche Ehre, sofern sie mir, als einem in der | |||||||
Naturkunde nicht ganz Unbewanderten, zugedacht wird, ich mit allem | |||||||
Dank erkenne. - Es ist aber damit noch eine Anfrage an die Metaphysik | |||||||
verbunden (deren Orakel, wie man sagt, längst verstummt ist); | |||||||
und das setzt mich in Verlegenheit, ob ich diese Ehre annehmen soll | |||||||
oder nicht: denn es ist darin auch die Frage vom Sitz der Seele | |||||||
( sedes animae ) enthalten, so wohl in Ansehung ihrer Sinnenempfänglichkeit | |||||||
( facultas sensitiue percipiendi ), als auch ihres Bewegungsvermögens | |||||||
( facultas locomotiua ). Mithin wird ein Responsum gesucht, | |||||||
über das zwey Facultäten wegen ihrer Gerichtsbarkeit (das | |||||||
forum competens ) in Streit gerathen können, die medicinische, in | |||||||
ihrem anatomisch=physiologischen, mit der philosophischen, in ihrem | |||||||
psychologisch=metaphysischen Fache, wo, wie bei allen Coalitionsversuchen, | |||||||
zwischen denen die auf empirische Principien alles | |||||||
gründen wollen, und denen welche zu oberst Gründe a priori verlangen | |||||||
(ein Fall der sich in den Versuchen der Vereinigung der reinen | |||||||
Rechtslehre mit der Politik, als empirisch=bedingter, imgleichen der | |||||||
reinen Religionslehre mit der geoffenbarten, gleichfalls als empirischbedingter, | |||||||
noch immer zuträgt) Unannehmlichkeiten entspringen, die | |||||||
lediglich auf den Streit der Facultäten beruhen, für welche die Frage | |||||||
gehöre, wenn bey einer Universität (als alle Weisheit befassender Anstalt) | |||||||
um ein Responsum angesucht wird. - Wer es in dem gegenwärtigen | |||||||
Falle dem Mediciner als Physiologen zu Dank macht, der | |||||||
verdirbt es mit dem Philosophen als Metaphysiker; und umgekehrt, | |||||||
wer es diesem recht macht, verstößt wider den Physiologen. | |||||||
Eigentlich ist es aber der Begriff von einem Sitz der Seele, | |||||||
welcher die Uneinigkeit der Facultäten über das gemeinsame Sinnenwerkzeug | |||||||
veranlaßt, und den man daher besser thut ganz aus dem | |||||||
Spiel zu lassen; welches um desto mehr mit Recht geschehen kann, da | |||||||
er eine locale Gegenwart, die dem Dinge was bloß Object des | |||||||
inneren Sinnes und so fern nur nach Zeitbedingungen bestimmbar ist, | |||||||
ein Raumesverhältniß beylege, verlanget aber eben damit sich selbst | |||||||
widerspricht, anstatt daß eine virtuelle Gegenwart, welche bloß für | |||||||
den Verstand gehört, eben darum aber auch nicht örtlich ist, einen | |||||||
Begriff abgiebt, der es möglich macht, die vorgelegte Frage (vom | |||||||
sensorium commune ) bloß als physiologische Aufgabe zu behandeln. | |||||||
- Denn wenn gleich die meisten Menschen das Denken im Kopfe zu | |||||||
fühlen glauben, so ist das doch bloß ein Fehler der Subreption, nämlich | |||||||
das Urtheil über die Ursache der Empfindung an einem gewissen | |||||||
Orte (des Gehirns) für die Empfindung der Ursache an diesem Orte | |||||||
zu nehmen, und die Gehirnspuren von den auf dasselbe geschehenen | |||||||
Eindrücken nachher, unter dem Namen der materiellen Ideen (des | |||||||
Cartes), die Gedanken nach Associationsgesetzen begleiten zu lassen: die, | |||||||
ob sie gleich sehr willkürliche Hypothesen sind, doch wenigstens keinen | |||||||
Seelensitz nothwendig machen und die physiologische Aufgabe nicht mit | |||||||
der Metaphysik bemengen. - Wir haben es also nur mit der Materie | |||||||
zu thun, welche die Vereinigung aller Sinnen=Vorstellungen im Gemüth *) | |||||||
möglich macht. - Die einzige aber die sich dazu (als Sensorium | |||||||
commune) qualificirt, ist, nach der durch Ihre tiefe Zergliederungskunde | |||||||
gemachten Entdeckung, in der Gehirnhöhle enthalten, | |||||||
und bloß Wasser: als das unmittelbare Seelenorgan, welches die daselbst | |||||||
sich endigenden Nervenbündel einerseits von einander sondert, | |||||||
damit sich die Empfindungen durch dieselben nicht vermischen, anderseits | |||||||
eine durchgängige Gemeinschaft unter einander bewirkt, damit | |||||||
nicht einige, ob zwar von demselben Gemüth empfangen, doch außer | |||||||
dem Gemüth wären (welches ein Widerspruch ist). | |||||||
Nun tritt aber die große Bedenklichkeit ein: daß da das Wasser, | |||||||
als Flüssigkeit, nicht füglich als organisirt gedacht werden kann, gleichwohl | |||||||
aber ohne Organisation, d. i. ohne zweckmäßige und in ihrer | |||||||
Form beharrliche Anordnung der Theile, keine Materie sich zum unmittelbaren | |||||||
Seelenorgan schickt, jene schöne Entdeckung ihr Ziel noch | |||||||
nicht erreiche. | |||||||
Flüssig ist eine stetige Materie, deren jeder Theil innerhalb dem | |||||||
Raum, den diese einnimmt, durch die kleinste Kraft aus ihrer Stelle | |||||||
bewegt werden kann. Diese Eigenschaft scheint aber dem Begriff einer | |||||||
organisirten Materie zu widersprechen, welche man sich als Maschine, | |||||||
mithin als starre,*) dem Verrücken ihrer Theile (mithin auch der | |||||||
Aenderung ihrer inneren Configuration) mit einer gewissen Kraft | |||||||
widerstehende Materie denkt; sich aber jenes Wasser zum Theil flüssig, | |||||||
zum Theil starr, denken (wie etwa die Crystallfeuchtigkeit im Auge): | |||||||
würde die Absicht, warum man jene Beschaffenheit des unmittelbaren | |||||||
Sinnorgans annimmt, um die Function desselben zu erklären, auch | |||||||
zum Theil zernichten. | |||||||
Wie wäre es, wenn ich statt der mechanischen, auf Nebeneinanderstellung | |||||||
der Theile zu Bildung einer gewissen Gestalt beruhenden, | |||||||
eine dynamische Organisation vorschlüge, welche auf | |||||||
chemischen (so wie jene auf mathematischen) Principien beruhet, und | |||||||
so mit der Flüssigkeit jenes Stoffs zusammen bestehen kann? - So | |||||||
wie die mathematische Theilung eines Raumes und der ihn einnehmenden | |||||||
Materie (z. B. der Gehirnhöhle und des sie erfüllenden | |||||||
Wassers) ins Unendliche geht, so mag es auch mit der chemischen | |||||||
als dynamischen Theilung (Scheidung verschiedener in einer Materie | |||||||
wechselseitig von einander aufgelöseter Arten) beschaffen seyn, daß sie, | |||||||
so viel wir wissen, gleichfalls ins unendliche ( in indefinitum ) geht. | |||||||
Das reine, bis vor Kurzem noch für chemisches Element gehaltene, | |||||||
gemeine Wasser wird jetzt durch pnevmatische Versuche in zwey verschiedene | |||||||
Luftarten geschieden. Iede dieser Luftarten hat, ausser ihrer | |||||||
Basis, noch den Wärmestoff in sich, der sich vielleicht wiederum von | |||||||
der Natur in Lichtstoff und andere Materie zersetzen läßt, so wie ferner | |||||||
das Licht in verschiedene Farben, u.s.w. Nimmt man noch dazu, | |||||||
was das Gewächsreich aus jenem gemeinen Wasser für eine unermeßliche | |||||||
Mannichfaltigkeit von zum Theil flüchtigen Stoffen, vermuthlich | |||||||
durch Zersetzung und andere Art der Verbindung, hervorzubringen | |||||||
weiß: so, kann man sich vorstellen, welche Mannichfaltigkeit von | |||||||
Werkzeugen die Nerven an ihren Enden in dem Gehirnwasser (das | |||||||
vielleicht nichts mehr als gemeines Wasser seyn mag) vor sich finden, | |||||||
um dadurch für die Sinnenwelt empfänglich und wechselseitig wiederum | |||||||
auch auf sie wirksam zu seyn. | |||||||
Wenn man nun als Hypothese annimmt: daß dem Gemüth im | |||||||
empirischen Denken, d. i. im Auflösen und Zusammensetzen gegebener | |||||||
Sinnenvorstellungen, ein Vermögen der Nerven unterlegt sey, nach | |||||||
ihrer Verschiedenheit das Wasser der Gehirnhöhle in jene Urstoffe zu | |||||||
zersetzen, und so, durch Entbindung des einen oder des andern derselben, | |||||||
verschiedene Empfindungen spielen zu lassen (z. B. die des | |||||||
Lichts, vermittelst des gereizten Sehenervens, oder des Schalls, durch | |||||||
den Hörnerven, u.s.w.), so doch, daß diese Stoffe, nach aufhörendem | |||||||
Reiz, so fort wiederum zusammenflössen; so könnte man sagen, dieses | |||||||
Wasser werde continuirlich organisirt, ohne doch jemals organisirt zu | |||||||
seyn: wodurch dann doch eben dasselbe erreicht wird, was man mit | |||||||
der beharrlichen Organisation beabsichtigte, nämlich die collective Einheit | |||||||
aller Sinnenvorstellungen in einem gemeinsamen Organ (sensorium | |||||||
commune), aber nur nach seiner chemischen Zergliederung begreiflich | |||||||
zu machen. | |||||||
Aber die eigentliche Aufgabe, wie sie nach Haller'n vorgestellt | |||||||
wird, ist hiemit doch nicht aufgelöst; sie ist nicht bloß physiologisch, | |||||||
sondern sie soll auch zum Mittel dienen, die Einheit des Bewußtseyns | |||||||
seiner selbst (welche dem Verstande angehört) im Raumesverhältnisse | |||||||
der Seele zu den Organen des Gehirns (welches zum äußeren Sinne | |||||||
gehört), mithin den Sitz der Seele, als ihre locale Gegenwart, vorstellig | |||||||
zu machen, welches eine Aufgabe für die Metaphysik, für diese | |||||||
aber nicht allein unauflöslich, sondern auch an sich widersprechend ist. | |||||||
- Denn wenn ich den Ort meiner Seele, d. i. meines absoluten | |||||||
Selbst's, irgendwo im Raume anschaulich machen soll, so muß ich mich | |||||||
selbst durch eben denselben Sinn wahrnehmen, wodurch ich auch die | |||||||
mich zunächst umgebende Materie wahrnehme; so wie dieses geschieht, | |||||||
wenn ich meinen Ort in der Welt als Mensch bestimmen will, nämlich | |||||||
daß ich meinen Körper in Verhältniß auf andere Körper außer | |||||||
mir betrachten muß. - Nun kann die Seele sich nur durch den inneren | |||||||
Sinn, den Körper aber (es sey inwendig oder äußerlich) nur durch | |||||||
äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort | |||||||
bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen | |||||||
äußeren Anschauung machen und sich ausser sich selbst versetzen müßte; | |||||||
welches sich widerspricht. - Die verlangte Auflösung also der Aufgabe | |||||||
vom Sitz der Seele, die der Metaphysik zugemuthet wird, führt auf | |||||||
eine unmögliche Größe √ -2 ; und man kann dem, der sie unternimmt, | |||||||
mit dem Terenz zurufen: nihilo plus agas, quam si des | |||||||
operam, ut cum ratione insanias ; indeß es dem Physiologen, dem die | |||||||
bloße dynamische Gegenwart, wo möglich, bis zur unmittelbaren verfolgt | |||||||
zu haben genügt, auch nicht verargt werden kann, den Metaphysiker | |||||||
zum Ersatz des noch Mangelnden aufgefordert zu haben. | |||||||
*) Unter Gemüth versteht man nur das die gegebenen Vorstellungen zusammensetzende und die Einheit der empirischen Apperceptionbewirkende Vermögen (animus), noch nicht die Substanz (anima), nach ihrer von der Materie ganz unterschiedenen Natur, von der man alsdann abstrahirt, wodurch das gewonnen wird, daß wir in Ansehung des denkenden Subjekts nicht in die Metaphysik überschreiten dürfen, als die es mit dem reinen Bewußtseyn und der Einheit desselben a priori in der Zusammensetzung gegebener Vorstellungen (mit dem Verstande) zu thun hat, sondern mit der Einbildungskraft, deren Anschauungen (auch ohne Gegenwart Ihres Gegenstandes), als empirischer Vorstellungen, Eindrücke im Gehirn (eigentlich habitus der Reproduction) correspondierend und zu einem Ganzen der inneren Selbstanschauung gehörend, angenommen werden können. | |||||||
*) Dem Flüssigen (fluidum) muß eigentlich das Starre (rigidum), wie es auch Euler im Gegensatz mit dem ersteren braucht, entgegengesetzt werden. Dem Soliden ist das Hohle entgegenzusetzen. | |||||||
[ abgedruckt in : AA XII, Seite 030 ] [ Brief 670 ] [ Brief 672 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |