Kant: Briefwechsel, Brief 651, Von Carl Friedrich Stäudlin.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Carl Friedrich Stäudlin.      
           
  21. Febr. 1795.      
           
  Verehrungswürdigster Mann,      
           
  Ihre gütige Aufnahme meines mangelhafften Werks hat mich mit      
  der lebhaftesten Freude erfüllt. Ihr Urtheil hat einen Werth für      
  mich, der mir für manche ungerechte Urtheile, die diß Werk schon hat      
  erfahren müssen, mehr als Entschädigung ist. Ich kenne zwar die      
  Flecken und Unvollkommenheiten dises Werks sehr gut, es ist auch      
  Manches mit Recht öffentlich gegen dasselbe gesagt worden. Von der      
  andern Seite hat man mich nach Idealen von Pragmatismusbeurtheilt,      
  die in der Geschichte der Philosophie nicht erreichbar sind; man hat      
  mir Vieles aufgebürdet, was ich nicht gesagt habe; man hat offt die      
  Hauptzwecke des Werks gänzlich verkannt oder verschwiegen. Ich      
  werde daher bald als Beilage zu meiner Geschichte noch eine kleine      
  Schrifft über den Begriff und die Geschichte des Skepticismus,      
  auch dessen Verhältniß zur kritischen Philosophie      
  herausgeben. Sie haben mir so viel Zutrauen eingeflösst, daß ich      
  mir vielleicht die Freiheit nehme, Sie späterhin wegen einiger Hauptpuncte      
  zu befragen, die ich in dieser Schrifft zu entscheiden suchen      
  werde. Doch verzeihen Sie, daß ich so viel von mir rede.      
           
  Der mir versprochenen Abhandlung "Der Streit der Facultäten"      
  sehe ich mit der grösten Sehnsucht entgegen. Ich habe über      
  disen höchst wichtigen Gegenstand noch nie recht einig mit mir werden      
  können. Desto mehr freue ich mich, hoffen zu dürffen, von einem so      
  großen Manne darüber belehrt zu werden, und bitte auch in diser      
  Rücksicht den Himmel, daß recht bald Friede werden möchte. In jedem      
           
  Falle bitte ich inständigst wenigstens um die Privatmittheilung derselbigen.      
  Was könnten aber auch einem Manne, wie Sie, Censuren      
  und Verschreyungen bei dem Drucke derselben schaden?      
           
  HE. H[of] R[ath] Lichtenberg sagt, daß bei dem Zwangsglauben      
  schon die Etymologie des Worts etwas habe, was ihm in gewisser      
  Rüksicht nicht ganz misfalle. Wenn er einige tela erhalten könnte      
  zum Abschiessen sei er sehr bereit. Er empfielt sich Ihnen bestens und      
  entschuldigt sich, daß er seinem geringen Geschenke keinen Brief beigelegt      
  habe. ["]Es war eigentlich, schreibt er mir, bloß eine BuchhändlerSendung      
  und eine sehr erbärmliche Vergeltung für sein mit einem      
  Briefe, den ich mit Rührung gelesen habe, begleitetes Geschenk. An      
  Kant zu schreiben, ist ein Nonconformist von meinem Fleische nicht      
  immer aufgelegt" Sie werden vielleicht wissen, daß HE. Lichtenberg      
  sehr schwächlich und kränklich ist und sich daher nach manchen      
  Formalitäten nicht conformiren kann.      
           
  Mit ungeheuchelter Verehrung      
           
    Ihr      
  Göttingen gehorsamer D[iener] u. Freund      
  den 21. Febr. 1795. D. Stäudlin.      
           
           
           
     

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