Kant: Briefwechsel, Brief 639, Von Iacob Sigismund Beck.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iacob Sigismund Beck.      
           
  Halle den 16ten September 1794      
           
  Verehrungswürdiger Lehrer,      
  Hierbey erhalten Sie ein Exemplar vom zweyten Bande meines      
  Auszugs aus Ihren critischen Schriften, welches Sie von mir anzunehmen      
  so gütig seyn wollen. Daß ich Ihnen für diese ganze mir      
  übertragene und jetzt vollendete Arbeit sehr verbunden bin, das will      
  ich Ihnen nicht weiter sagen. Ich hätte gewünscht daß die Reife der      
  Einsicht in diese philosophische Angelegenheiten, und gewissermassen die      
           
  Gewandheit, die ich allererst in dieser Arbeit in einigem Grade erlangt      
  habe, mir schon vor derselben beschert gewesen wäre; so würde ich derselben      
  mehr Vollkommenheit gegeben und sie dem etwas viel versprechenden      
  Titel eines erläuternden Auszuges, entsprechender gemacht haben.      
  Während dieses ganzen Geschäftes habe ich meinen Blick auf das      
  eigentliche Transcendentale unserer Erkenntniß, immer wieder zurückgewandt      
  und diesen Punct so scharf zu fassen gesucht, als ich nur      
  immer konnte. Hierdurch bin ich inne geworden, daß die Möglichkeit      
  der Erfahrung, sofern dieselbe den wahren transcendentalen Standpunct      
  selbst ausmacht, ganz was Anderes ist, als diejenige bloß abgeleitete,      
  discursive Vorstellung der Möglichkeit der Erfahrung, die ein bloßes,      
  und grossentheils unverständliches Hypothesenspiel ist, das zu tausend      
  Fragen Anlaß giebt. Mit Ihrer Critik, Fürtreflicher Mann, ist es      
  fast so bewandt, wie mit der Astronomie, insbesondere der physischen.      
  Man wird so oft darin hin und hergeworfen, daß man lange Zeit      
  nicht weiß, woran man ist. Allererst wenn man den eigentlichen      
  Standpunct der Transcendentalphilosophie erreicht hat, und so den Geist      
  Ihrer synthetischen objectiven Einheit des Bewußtseyns in seine Denkart      
  gleichsam übertragen, und sich in die Handlungsweise der ursprünglichen      
  Beylegung (der Synth)esis nach den Categorien) und der ursprünglichen      
  Anerkennung (des transcendentalen Schematismus) gewissermassen      
  versetzt hat, ist man im Stande, die Critik von ihrem Anfange      
  bis zu ihrem Ausgange zu fassen und sie zu übersehen, und sonach ist      
  man wahrhaftig erst im Stande, so simpel es auch sehr vielen scheinen      
  mag, zu wissen was ein Erkenntniß a priori und a posteriori heisse.      
  In dem Briefe den Ihnen Hartknoch wird überbracht haben, schrieb      
  ich Ihnen daß ich an einer Schrift arbeite, in der ich diesen transcendentalen      
  Standpunct etwas hervorheben will. Da habe ich nun folgende      
  Gegeneinanderstellung im Kopfe. Ich will zeigen, wie nicht      
  allein alle Mißverständnisse der Critik, sondern auch alle Verirrungen      
  der Vernunft, überhaupt ihre Quelle darin haben, daß man eine Verbindung      
  zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstande annimmt,      
  die selbst Nichts ist, und nachdem ich nun diese vermeyntliche Erkenntniß      
  der Dinge an sich in ihrer ganzen Leerheit, werde dargestellt, und      
  ganz besonders, obzwar mit aller Bescheidenheit werde gezeigt haben,      
  daß die meisten Ausleger der Critik, ob sie gleich dieselbe unterschreiben,      
  sich dieses Vorurtheils noch gar nicht entschlagen haben, und indem sie      
           
  so an der bloß abgeleiteten Vorstellungsart hängen, der Frage des      
  Sceptikers: was verbindet meine Vorstellung von einem Gegenstande,      
  mit diesem Gegenstande? nimmermehr ausweichen, so werde ich in der      
  Auseinandersetzung der ursprünglichen Vorstellungsart im Gegensatze      
  zeigen, worin denn die Verbindung liege, und folglich was die ganze      
  Behauptung der Critik: Wir erkennen die Dinge bloß als Erscheinungen,      
  sage, zeigen:      
           
  Ich habe sehr viel auf dem Herzen, was ich Ihnen von meinen      
  nunmehr etwas fester gewordenen Einsichten in Ihre unsterbliche Critik      
  gern sagen möchte. Aber meine Briefe mögen Ihnen vieleicht lästig      
  seyn und ich schliesse daher mit der einzigen Bitte daß Sie mich in      
  freundschaftlichem Andenken behalten wollen.      
           
  Beck.      
           
           
           
     

[ abgedruckt in : AA XI, Seite 523 ] [ Brief 638 ] [ Brief 640 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ]