Kant: Briefwechsel, Brief 620, An Carl Leonhard Reinhold. |
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An Carl Leonhard Reinhold. | |||||||
28. März 1794. | |||||||
Verehrungswürdiger Herr | |||||||
Theurester Freund! | |||||||
Mit dem herzlichen Wunsche, daß Ihre Entschließung, den Platz | |||||||
der Verbreitung Ihrer gründlichen Einsichten zu verändern, Ihnen | |||||||
selbst eben so ersprieslich und für alle Ihre Wünsche so befriedigend | |||||||
seyn möge, als sie gewiß denen seyn wird, zu welchen Sie übergehen, | |||||||
verbinde ich noch denjenigen, auch mit mir nicht unzufrieden zu seyn, | |||||||
obzwar ich dazu, dem Anschein nach, Ursache gegeben habe; wegen | |||||||
Nichterfüllung meines Versprechens, die Aufforderung betreffend, Ihre | |||||||
vortrefliche mir angezeigte Briefe, vornehmlich die Principien des | |||||||
Naturrechts angehend (als mit denen ich im Wesentlichen mit Ihnen | |||||||
übereinstimme) durchzugehen und Ihnen mein Urtheil darüber zu eröfnen. | |||||||
Daß dieses nun nicht geschehen ist, daran ist nichts geringeres | |||||||
Schuld, als mein Unvermögen! - Das Alter hat in mir, seit etwas | |||||||
mehr als drey Iahren, nicht etwa eine sonderliche Veränderung im | |||||||
Mechanischen meiner Gesundheit, noch auch eine große (doch merkliche) | |||||||
Abstufung der Gemüthskräfte, den Gang meines Nachdenkens, den ich | |||||||
einmal nach einem gefaßten Plane eingeschlagen, fortzusetzen, sondern | |||||||
vornehmlich eine mir nicht wohl erklärliche Schwierigkeit bewirckt, mich | |||||||
in die Verkettung der Gedanken eines Anderen hineinzudenken und | |||||||
so dessen System bey beyden Enden gefasst reiflich beurtheilen zu | |||||||
können, (denn mit allgemeinem Beyfall oder Tadel ist doch Niemanden | |||||||
gedient). Dies ist auch die Ursache, weswegen ich wohl allenfalls | |||||||
Abhandlungen aus meinem eigenen Fonds herausspinnen kann: was | |||||||
aber z. B. ein Maimon mit seiner Nachbesserung der critischen | |||||||
Philosophie (dergleichen die Iuden gerne versuchen, um sich auf fremde | |||||||
Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben) eigentlich wolle, nie | |||||||
recht habe fassen können und dessen Zurechtweisung ich Anderen überlassen | |||||||
muß. - Daß aber auch an diesem Mangel körperliche Ursachen | |||||||
schuld seyn, schließe ich daraus: daß er sich von einer Zeit her datirt | |||||||
vor etwas mehr als drey Iahren da ein Wochenlang anhaltender | |||||||
Schnuppen eine schleimigte Materie verrieth, die, nachdem jener aufgehört | |||||||
hat, sich nun auf die zum Haupt führende Gefäße geworfen | |||||||
zu haben scheint, dessen stärkere Absonderung, durch dasselbe Organ, | |||||||
wenn ein glückliches Niesen vorher geht, mich so gleich aufklärt, bald | |||||||
darauf aber durch seine Anhäufung wiederum Umneblung eintreten | |||||||
läßt. Sonst bin ich für einen 70 jährigen ziemlich gesund. - Dies | |||||||
Bekenntnis, welches, einem Arzt gethan, ohne Nutzen seyn würde, weil | |||||||
er wieder die Folgen des Alters nicht helfen kann, wird mir hoffentlich | |||||||
in Ihrem Urtheile über meine wahrhaftig freundschaftlich=ergebene | |||||||
Gesinnung den gewünschten Dienst thun, | |||||||
Und nun noch etwas von unseren Freunden. - Was ist aus | |||||||
unserem gemeinschaftlichen Freunde, D. Erhard aus Nürnberg, geworden? | |||||||
Denn ohne Zweifel wird Ihnen nicht allein sein Abentheuer sondern, | |||||||
woran mir vornehmlich gelegen ist es zu erfahren, vermuthlich auch | |||||||
der Ausgang desselben bekannt geworden seyn. - In der Mitte des | |||||||
Februars erhielt ich einen Brief dd. Würtzburg den 31 Januar. 94 von | |||||||
einem (mir sonst unbekannten) Hrn. Baur, des dortigen Stifts Vikar, | |||||||
welcher der Hauptsache nach folgendes enthielt: Daß ein gewisser sich | |||||||
Williams nennender Engländer im Octobr. 93 sich in Nürnberg bey | |||||||
Hr. Erhard eingefunden und von diesem, sammt seiner Frau und | |||||||
Schwester, (beydes schönen Weibern) in sein Haus, unter dem Vorwande | |||||||
das Englische von ihnen zu profitiren, aufgenommen worden: | |||||||
Daß D. E. so viel Zutrauen auf jenes seine vorgezeigte Dokumente | |||||||
bewiesen, ihm auf einen Wechsel nach London 2500 fl. zu geben: da | |||||||
Williams mit Bewilligung der Ganzen Famil[i]e dem D. E. eine Regiments=Ober=chirurgus=stelle | |||||||
zu 6000 fl. in Amerikanischen Diensten | |||||||
(vorgeblich) verschaffte, und dieser im April 94 Europa zu verlassen | |||||||
und nach Philadelphia reisen zu wollen an Hrn Baur den 22 Dec 93 | |||||||
schrieb: daß W. eine Reise auf kurze Zeit vorschützte und den E bewog | |||||||
mitzureisen, da sie dann zusammen nach München abgiengen: da | |||||||
14 Tag nachher der Betrug sich durch einen Brief des W. an seinen | |||||||
Bruder in Wien und in welchem er sich Anton Simmon unterschrieben | |||||||
hatte, welcher Brief, da letzterer in W-n nicht anzutreffen war, offen | |||||||
nach Nbg zurücklief, entdeckte: daß der ausgestellte Wechsel als falsch | |||||||
zurük kam: daß endlich, obgleich ihm die nachgeschickte Stekbriefe auf | |||||||
die Spuhr gekommen, er doch nicht hat eingeholt werden können und | |||||||
nun seine jetzt schwangere, dem zweyten Kinde entgegen sehende Frau | |||||||
und ihre Familie diesen schräklichen Vorfall beweinen und, da E. in | |||||||
einem Briefe aus Saltzburg den 20sten geäußert habe, mich besuchen | |||||||
zu wollen, ich aufgefordert werde, so bald ich etwas von seinem | |||||||
Aufenthalt erfahre, es zu berichten. Herr Baur glaubt: daß dieser | |||||||
"Philosoph" durch Verliebung so grob bethört und zu so unerhörter | |||||||
Untreue verleitet worden. | |||||||
Wenn Ihnen Theuerster Freund etwas von dem Ausgang dieser | |||||||
Geschichte bekannt wird, so erbitte mir davon, wie auch von den litterärischen | |||||||
Merkwürdigkeiten Ihres jetzigen Aufenthalts gütige Nachricht, | |||||||
imgleichen versichert zu seyn, daß Niemand mit mehr Hoch= und Werthschätzung | |||||||
Ihnen ergeben seyn kann, als | |||||||
Ihr | |||||||
Königsberg | treuer Freund und Diener | ||||||
den 28 Mart. 1794 | I Kant | ||||||
[ abgedruckt in : AA XI, Seite 494 ] [ Brief 619 ] [ Brief 621 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |