Kant: Briefwechsel, Brief 574, An Carl Friedrich Stäudlin.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Carl Friedrich Stäudlin.      
           
  Königsberg, d. 4. Mai 1793.      
           
  Sehen Sie Verehrungswürdiger Mann, die Verspätung meiner,      
  auf Ihr mir schon d. 9. Nov. 1791 gewordenes Schreiben und      
  werthes Geschenk Ihrer Ideen einer Kritik etc. schuldigen Antwort nicht      
  als Ermangelung an Aufmerksamkeit und Dankbarkeit an; ich hatte      
  den Vorsatz, diese in Begleitung mit einem, jenem gewissermaßen ähnlichen      
  Gegengeschenk an Sie ergehen zu lassen, welche aber durch manche      
  Zwischenarbeiten bisher aufgehalten worden. - Mein schon seit geraumer      
  Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des      
  Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben:      
  1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun?      
  (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte      
  folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon      
  seit mehr als 20 Iahren jährlich ein Collegium gelesen habe).      
  Mit beikommender Schrift: Religion innerhalb der Grenzen etc.      
  habe die dritte Abtheilung meines Plans zu vollführen gesucht, in      
  welcher Arbeit mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die      
  christliche Religion, dabei aber auch der Grundsatz einer geziemenden      
  Freimüthigkeit geleitet hat, nichts zu verheimlichen, sondern, wie ich die      
  mögliche Vereinigung der letzteren mit der reinsten praktischen Vernunft      
  einzusehen glaube, offen darzulegen. - Der biblische Theolog      
  kann doch der Vernunft nichts Anderes entgegensetzen, als wiederum      
  Vernunft, oder Gewalt, und will er sich den Vorwurf der letzteren      
  nicht zu Schulden kommen lassen, (welches in der jetzigen Krisis der      
  allgemeinen Einschränkung der Freiheit im öffentlichen Gebrauch sehr      
  zu fürchten ist,) so muß er jene Vernunftgründe, wenn er sie sich für      
  nachtheilig hält, durch andere Vernunftgründe unkräftig machen und      
  nicht durch Bannstrahlen, die er aus dem Gewölke der Hofluft auf sie      
  fallen läßt; und das ist meine Meinung in der Vorrede S. XIX gewesen,      
  da ich zur vollendeten Instruction eines biblischen Theologen      
  in Vorschlag bringe, seine Kräfte mit dem, was Philosophie ihm entgegenzusetzen      
  scheinen möchte, an einem System aller ihrer Behauptung,      
  (dergleichen etwa gegenwärtiges Buch ist,) und zwar gleichfalls durch      
  Vernunftgründe zu messen, um gegen alle künftige Einwürfe gewaffnet      
           
  zu sein. - Die auf gewisse Art geharnischte Vorrede wird Sie vielleicht      
  befremden; die Veranlassung dazu ist diese. Das ganze Werk      
  sollte in 4 Stücken in der Berliner Monats Schrift, doch mit der      
  Censur der dortigen Commission herauskommen. Dem ersten Stück gelang      
  dieses (unter dem Titel: vom radicalen Bösen in der m. N.); indem      
  es der philosophische Censor, Hr. G[eh]. R[ath] Hillmer, als zu      
  seinem Departement gehörend annahm. Das zweite Stück aber war nicht so      
  glücklich, weil Hr. Hillmer, dem es schien in die biblische Theologie      
  einzugreifen, (welches ihm das erste, ich weiß nicht aus welchem Grunde,      
  nicht zu thun geschienen hatte,) es für gut fand, darüber mit dem      
  biblischen Censor, Hrn. O[ber] C[onsistorial] R[ath] Hermes, zu conferiren,      
  der es alsdann natürlicher Weise, (denn welche Gewalt sucht      
  nicht ein bloser Geistlicher an sich zu reißen?) als unter seine Gerichtsbarkeit      
  gehörig in Beschlag nahm und sein legi verweigerte. - Die Vorrede      
  sucht nun zu zeigen, daß, wenn eine Censurcommission über die Rechtsame      
  dessen, dem die Censur einer Schrift anheim fallen sollte, in Ungewißheit      
  ist, der Autor es nicht auf sie dürfe ankommen lassen, wie sie sich      
  unter einander einigen möchten, sondern das Urtheil einer einheimischen      
  Universität aufrufen könne; weil da allein eine jede Facultät verbunden      
  ist, auf ihre Rechtsame zu halten und eine der anderen Ansprüche      
  zurückzuhalten, ein akademischer Senat aber in diesem Rechtsstreit      
  gültig entscheiden kann. - Um nun alle Gerechtigkeit zu erfüllen, habe      
  ich diese Schrift vorher der theologischen Facultät zu ihrer Beurtheilung      
  vorgelegt, ob sie auf dieselbe, als in biblische Theologie eingreifend,      
  Anspruch mache oder vielmehr ihre Censur, als der philosophischen zuständig,      
  von sich abweise, und diese Abweisung, dagegen Hinweisung      
  zu der letzteren auch erhalten.      
           
  Diesen Vorgang Ihnen, würdigster Mann, mitzutheilen, werde      
  ich durch Rücksicht auf den möglichen Fall, daß darüber sich etwa      
  ein öffentlicher Zwist ereignen dürfte, bewogen, um auch in Ihrem      
  Urtheil wegen der Gesetzmäßigkeit meines Verhaltens, wie ich hoffe,      
  gerechtfertigt zu sein. - Wobei ich mit der aufrichtigsten Hochachtung      
  jederzeit bin      
           
    Ew. HochEhrwürden      
    gehorsamster Diener      
    I. Kant.      
           
           
           
           
     

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