Kant: Briefwechsel, Brief 411, An Ludwig Ernst Borowski. |
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| An Ludwig Ernst Borowski. | |||||||
| Zwischen d. 6. u. 22. März 1790. | |||||||
| Sie fragen mich, wo der Hang zu der jezt so überhandnehmenden | |||||||
| Schwärmerei herkommen möge, und wie diesem Uebel abgeholfen | |||||||
| werden könne? Beides ist für die Seelenärzte eine eben so schwer zu | |||||||
| lösende Aufgabe, als der vor einigen Iahren postschnell seinen Umlauf | |||||||
| um die Welt machende, in Wien sogenannte, rußische Catarrh, (Influenza) | |||||||
| der unaufhaltsam viele befiel, aber von selbst bald aufhörete, es für | |||||||
| unsere Leibesärzte war, die mit jenen darinn viel Aehnliches haben, | |||||||
| daß sie die Krankheiten besser beschreiben, als ihren Ursprung einsehen, | |||||||
| oder ihnen abhelfen können; glücklich für den Kranken, wenn ihre | |||||||
| Vorschriften nur diätetisch sind und reines kaltes Wasser zum Gegenmittel | |||||||
| empfehlen, der gütigen Natur aber das Uebrige zu verrichten | |||||||
| überlassen. | |||||||
| Wie mich dünkt, ist die allgemein ausgebreitete Lesesucht nicht | |||||||
| blos das Leitzeug (Vehikel) diese Krankheit zu verbreiten, sondern auch | |||||||
| der Giftstoff (Miasma) sie zu erzeugen. Der wohlhabendere, mit | |||||||
| unter auch der vornehmere Stand, der, wo nicht auf Ueberlegenheit, | |||||||
| doch wenigstens auf Gleichheit in Einsichten mit denen Anspruch macht, | |||||||
| welche sich dahin auf dem dornigten Wege gründlicher Erlernung bemühen | |||||||
| müssen, begnügt sich, gleichsam den Rahm der Wissenschaften | |||||||
| in Registern und summarischen Auszügen abzuschöpfen, will aber doch | |||||||
| gerne die Ungleichheit unmerklich machen, die zwischen einer redseligen | |||||||
| Unwissenheit und gründlicher Wissenschaft bald in die Augen fällt und | |||||||
| dieses gelingt am besten, wenn er unbegreifliche Dinge, von denen sich | |||||||
| nur eine luftige Möglichkeit denken läßt, als Facta aufhascht und | |||||||
| dann den gründlichen Naturforscher auffordert, ihm zu erklären, wie | |||||||
| er wohl die Erfüllung dieses oder jenen Traums, dieser Ahndung, | |||||||
| astrologischen Vorhersehung, oder Verwandlung des Bleyes in Gold, | |||||||
| u.s.w. erklären wolle, denn hiebey ist, wenn das Factum eingeräumt | |||||||
| wird (welches er sich nicht streiten läßt) einer so unwissend wie der | |||||||
| andere. Es war ihm schwer alles zu lernen und zu wissen, was der | |||||||
| Naturkenner weis; daher versucht er es, auf dem leichteren Wege die | |||||||
| Ungleichheit verschwinden zu machen, indem er nämlich Dinge auf die | |||||||
| Bahn bringt, davon beide nichts wissen und einsehen, von denen er | |||||||
| also die Freiheit hat, allerlei zu urtheilen, worinn es der andere doch | |||||||
| nicht besser machen kann. - Von da breitet sich nun die Sucht auch | |||||||
| unter andere im gemeinen Wesen aus. | |||||||
| Wider dieses Uebel sehe ich kein anderes Mittel, als das Vielerleilernen | |||||||
| in Schulen auf das Gründlichlernen des Wenigren zurückzuführen | |||||||
| und die Lesebegierde nicht sowohl auszurotten, als vielmehr | |||||||
| dahin zu richten, daß sie absichtlich werde; damit dem Wohlunterwiesenen, | |||||||
| nur das Gelesene, welches ihm baaren Gewinn an Einsicht | |||||||
| verschafft, gefalle, alles übrige aber aneckele. - Ein deutscher Arzt | |||||||
| (Hr. Grimm) hält sich in seinen Bemerkungen eines Reisenden etc. | |||||||
| über die französische Allwissenheit, wie er sie nennt, auf; aber | |||||||
| diese ist lange nicht so geschmacklos, als wenn sie sich bei einem | |||||||
| Deutschen eräugnet, der gemeiniglich daraus ein schwerfällig System | |||||||
| macht, von dem er nachher nicht leicht abzubringen ist, indessen da | |||||||
| eine Mesmeriade in Frankreich einmal eine Modesache ist und bald | |||||||
| darauf gänzlich verschwindet. | |||||||
| Der gewönliche Kunstgrif, seiner Unwissenheit den Anstrich von | |||||||
| Wissenschaft zu geben, ist, daß der Schwärmende frägt: Begreift ihr | |||||||
| die wahre Ursache der magnetischen Kraft, oder kennt ihr die Materie, | |||||||
| die in den electrischen Erscheinungen so wunderbare Wirkungen ausübt? | |||||||
| Nun glaubt er mit gutem Grunde von einer Sache, die, seiner | |||||||
| Meinung nach, der größte Naturforscher ihrer innern Beschaffenheit | |||||||
| nach eben so wenig kennt, als er, auch in Ansehung der möglichsten | |||||||
| Wirkungen derselben eben so gut mitreden zu können: Aber der lezte | |||||||
| läßt nur solche Wirkungen gelten, die er vermittelst des Experiments | |||||||
| jederzeit unter Augen stellen kann, indem er den Gegenstand gänzlich | |||||||
| unter seine Gewalt bringt: indessen daß der erstere Wirkungen aufrafft, | |||||||
| die, so wohl bei der beobachtenden, als der beobachteten Person, | |||||||
| gänzlich von der Einbildung herrühren können und also sich keinem | |||||||
| wahren Experimente unterwerfen lassen. | |||||||
| Wider diesen Unfug ist nun nichts weiter zu thun, als den animalischen | |||||||
| Magnetiseur magnetisiren und desorganisiren zu lassen, so | |||||||
| lange es ihm und andern Leichtgläubigen gefällt; der Policey aber es | |||||||
| zu empfehlen, daß der Moralität hiebei nicht zu nahe getreten werde, | |||||||
| übrigens aber für sich den einzigen Weg der Naturforschung, durch | |||||||
| Experiment und Beobachtung, die die Eigenschaften des Objects | |||||||
| äusseren Sinnen kenntlich werden lassen, ferner zu befolgen. Weitläuftige | |||||||
| Widerlegung ist hier wider die Würde der Vernunft und | |||||||
| richtet auch nichts aus: verachtendes Stillschweigen ist einer solchen | |||||||
| Art von Wahnsinn besser angemessen: wie denn auch dergleichen Eräugnisse | |||||||
| in der moralischen Welt nur eine kurze Zeit dauren, um | |||||||
| andern Thorheiten Plaz zu machen. Ich bin u.s.f. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 141 ] [ Brief 410 ] [ Brief 412 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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