Kant: Briefwechsel, Brief 386, Von Iohann Benjamin Iachmann.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Iohann Benjamin Iachmann.      
           
  Edinburgh den 9 t Octob 1789.      
           
  Wohlgebohrner Herr Professor,      
  ewig theurer, unvergeslicher Lehrer und Freund!      
  Durch die gütige Zuschrift, womit Ew: Wohlgebohren, ungeachtet      
  Ihrer so mannigfaltigen und wichtigen Beschäftigungen, mich dennoch      
  beehret haben, finde ich mich ganz ungemein geschmeichelt, und betrachte      
  sie als einen neuen Beweis ihrer Güte und Gewogenheit,      
  deren Sie mich seit so langer Zeit gewürdiget haben, und sage Ihnen      
  hiefür meinen wärmsten und aufrichtigsten Dank. Durch die edelmüthige      
  Bereitwilligkeit meiner Königsbergschen Freunde in Beförderung      
  meiner Absicht, mich noch für einige Zeit hier aufhalten,      
  und überhaupt den mir vorgelegten Plan meiner Studien vollkommen      
  in Ausführung setzen zu können, bin ich aufs innigste und dankvollste      
  gerühret worden, und fühle mich völlig unfähig meine Dankbarkeit      
  dafür, und für den Antheil den Sie daran haben, auszudrücken.      
           
  Der Vortheil, den ich durch längern Auffenthalt allhier gewinne,      
  ist meinem Bedüncken nach in so verschiedener Hinsicht äusserst wichtig,      
  und ich würde es stets sehr bedauert haben, wenn mir die Gelegenheit,      
  diesen Ort ferner zu benutzen, versagt worden wäre. Ich bin aber      
  auch überzeugt, daß vielleicht unter 100 von denen, die sich hier befinden,      
  nicht 10 sind, die wissen, welchen Nutzen man aus dem Auffenthalt      
  an diesem Ort schöpfen kann, und daher die verschiedene und sich      
  wiedersprechende Nachrichten über Edinburgh als medicinische Schule.      
  Ich glaube jetzt nur durch das eifrigste Bestreben, diesen Ort nach      
  allen Kräften zu benutzen, die grosmüthige Unterstützung meiner      
  Freunde vergelten zu können, und durch künftige Anwendung meiner      
  allhier gesamleten Kenntnisse, hoffe ich, mich bald in der Lage zu befinden      
  diese empfangene Wohlthaten werkthätig erwiedern zu können.      
           
  Für die in Ihrem Briefe mir mitgetheilte Winke über verschiedene      
  Puncte der speculativen Philosophie, und über den Plan den      
  ich eigentlich zu befolgen hätte, wenn ich ja etwas darüber sollte      
  drucken lassen, bin ich Ihnen sehr verbunden.      
           
  Nothwendige und wichtige Geschäfte haben's für einige Zeit mir      
  unmöglich gemacht, meinem Vornehmen gemäs, dem Studio Ihrer      
           
  Schriften und der englischen Metaphysiker einen Theil meiner Zeit      
  zu widmen. Demohngeachtet habe ich doch öfters Gelegenheit gehabt,      
  mit meinen hiesigen gelehrten Freunden über Ihre Critic etc. mich zu      
  unterreden. - Die deutsche Litteratur und mithin auch der Ruf Ihrer      
  Schriften fängt an sich ziemlich allgemein in England auszubreiten.      
  Es giebt verschiedene Gelehrte, die die deutsche Sprache verstehen, und      
  die literarischen Producte in derselben schätzen. In Oxford allein sind      
  4 Professoren, die Liebhaber der deutschen Schriften sind und im      
  dasigen Buchladen findet man eine große Sammlung davon. Alle      
  Ihre Schriften, bis auf die kleinste Abhandlungen sind darinn anzutreffen.      
  Mit Vergnügen finde ich öfters Ihren Nahmen und Nachrichten      
  von Ihnen in den englischen Iournalen und periodischen      
  Schriften angezeigt. - In Schottland giebts weniger Gelehrte, die      
  mit den Deutschen bekannt sind. - Britanien scheint jetzt völlig vorbereitet      
  und selbst in Erwartung zu seyn, umständlich von Ihrem      
  System unterrichtet zu werden, und es wäre jetzt die gelegenste Zeit,      
  einen Auszug davon in englischer Sprache zu liefern. - Ich würde      
  mich ausserordentlich freuen, wenn ich der erste seyn könnte, der Ihre      
  Lehren den Engländern mitzuteilen im Stande wäre. Ich würde auch      
  ohnfehlbar schon den Versuch damit gemacht haben, wenn meine medicinischen      
  Arbeiten, denen ich doch jetzt vorzüglich obliegen muß, mich      
  nicht so sehr beschäftigten. - Ueberdem traue ich's mir nicht zu diesem      
  Unternehmen völlig gewachsen zu seyn; denn, obgleich ich glaube die      
  Grundsätze Ihres Systems völlig zu verstehen: so dächte ich doch, da      
  ich mit speculativen Schriftstellern überhaupt, und vorzüglich mit den      
  englischen mehr bekannt seyn müßte, um die Puncte, die am leichtesten      
  bestritten werden könnten, desto deutlicher und umständlicher darstellen      
  zu können. In den Unterredungen mit meinen hiesigen Freunden      
  habe ich's vorzüglich schwer gefunden, sie von dem Unterschiede der      
  Begriffe a priori und den angebohrnen Begriffen zu überzeugen, welche      
  sie für ein und dasselbe halten, imgleichen, daß es wirklich Begriffe      
  a priori gebe, und daß sie selbst dazu nothwendig seyn, um damit      
  Erfahrung für uns Erkenntnis werden könne. Man ist gewöhnlich      
  sehr geneigt, alle metaphysische Begriffe a priori für Erfahrungsbegriffe      
  und alle mathematische Sätze für identisch anzusehen, deren      
  Nothwendigkeit nur auf die Evidenz unserer Sinne beruht, und      
  welche Metaphysiker selbst strittig machen können. - Da ihnen      
           
  der nothwendige Unterschied zwischen Phänomenon und Noumenon ,      
  und daß folglich der Mensch in beyder Hinsicht betrachtet werden      
  müsse, völlig unbekannt ist: so scheint's ihnen auch unmöglich begreifen      
  zu können, daß der Mensch als Phänomenon dem Naturmechanism      
  unterworfen, und doch als Noumenon frey seyn und den      
  sinnlichen Eindrücken selbst entgegen handeln könne. Vielmehr scheints      
  ihnen unwiederlegbar durch Hume dargethan zu seyn, daß der Mensch      
  durch die stärksten Beweggründe und augenblicklichen Eindrücke jedesmal      
  zu Handlungen angetrieben werde. - Diese Schwierigkeiten und      
  Einwürfe, die sich nicht so leicht durch unterbrochene Unterredungen      
  auseinandersetzen lassen, glaube ich doch durch eine Abhandlung, wo      
  man von einem Folgesatz zum andern allmählich übergehen kann,      
  leicht heben zu können. - Sollte ich also auch zu diesem Zweck bey      
  baldiger Musse etwas aufsetzen: so würde ich's doch nicht wagen,      
  durch den Druck bekannt zu machen, bevor ich es Ihrer Beurtheilung      
  vorgelegt hätte. Denn ich bin zu sehr überzeugt, wie viel bey der      
  Ausbreitung Ihres Systems in Britanien auf die erste Publication      
  ankömmt, und diesem Endzwecke wünschte ich keinesweges durch meine      
  Schuld oder Unvermögen entgegen zu arbeiten. - Bisher hab ich      
  unter den sich hier befindenden oder durchreisenden Deutschen keinen      
  angetroffen, mit dem ich mich über Ihre Schriften hätte unterhalten      
  können. Seit etwa 3 Wochen aber befindet sich Herr Doctor Girtanner      
  hier, der in Deutschland durch verschiedene Abhandlungen, besonders      
  aber durch sein ganz vortreflich Buch über die venerische Krankheit      
  rühmlichst bekannt ist. Er ist ein Mann von gar seltenen Talenten      
  und ausserordentlicher Gelehrsamkeit. Dieser Dr. Girtanner, mit dem      
  ich in einem Hause lebe und dessen vertrauter Freund zu seyn ich      
  das Glück habe, ist ein großer Kenner und Verehrer Ihrer Schriften.      
  Er hat sich für einige Zeit in Iena bey Rath Reinhold aufgehalten,      
  blos in der Absicht, um sich mit ihm über Ihre Schriften zu unterreden,      
  und darin unterrichten zu lassen. - Durch ihn habe ich      
  Reinholds Buch: bisherige Schiksale der Kantschen Philosophie" zu      
  lesen bekommen, welches mir sehr große Freude verursacht hat.      
  Dr. Girtanner, wiewohl Ihnen persönlich unbekannt, in jeder Rücksicht      
  aber Ihrer Bekanntschaft werth, läßt sich Ihnen ergebenst empfehlen,      
  und versichert Sie seiner grösten Hochachtung. - Ohne Zweifel wird      
  Sie mein Bruder schon von meinem Entschlus allhier in gradum      
           
  Doctoris zu promoviren unterrichtet haben. Sie erinnern Sich, da      
  ich vor einiger Zeit bey meinen Königsbergschen Freunden deshalb      
  anfrug; die mir aber den Rath ertheilten, wegen etwanniger Schwierigkeiten      
  lieber in Halle zu graduiren. Diesem zu folge war ich auch entschlossen      
  solches zu thun. Nachherige und wiederholte reife Betrachtungen      
  aber über den Vortheil, der mir unausbleiblich für meine künftige      
  Praxis etc. daraus erwächst, wenn ich hier promoviret habe, besonders      
  aber der große Nutzen, den ich daraus schöpfe, wenn ich als promotus      
  so wohl in England als in Deutschland reise, wodurch ich zugleich      
  das Recht erhalte, zu allen gelehrten Gesellschaften und Hospitälern      
  zugelassen zu werden, und welches ich mit Schwierigkeit, oder auch      
  gar nicht erlangen kann, wenn ich als Studente reise, haben mich      
  meinen Entschlus ändern und allhier den gradum nehmen, gemacht.      
  Ueberdem, sollten die Schwierigkeiten, die man mir in Berlin deswegen      
  machen könnte, nur in einem schärfern Examen bestehen; so      
  fürchte ich sie gar nicht. Und meines Wissens existirt kein Edict,      
  welches einem Preussen durchaus verböte, auswärts zu promoviren.      
  Die Erlaubnis nach Edinburgh zu gehen, habe ich, wie Sie wissen, vom      
  Ostpreußischen Etaatsministerio erhalten. Und sollte ja ein ausdrückliches      
  Verbot auf ausländische Universitäten zu graduiren vorhanden seyn; so      
  glaube ich doch bey meiner Anwesenheit in Berlin es dahin auszumitteln,      
  daß ich demselben entgehe. - Ich nehme mir die Freyheit Ihnen ein      
  Exemplar meiner inaugural- Dissertation zu übersenden, welcher ich      
  mich erdreistet habe Ihren Nahmen vorzusetzen; ich darfs nicht sagen,      
  daß dieses ein öffentliches, wiewohl geringfügiges und unvollkomnes      
  Merkmahl meiner aufrichtigsten Hochachtung für Sie und meiner      
  Dankbarkeit für die unbeschreiblichen Verdienste, die Sie um mich      
  haben, und für Ihre mir stets erwiesene Gewogenheit seyn soll.      
  Ich wünschte nur, daß diese kleine Schrift Ihres Nahmens würdiger      
  wäre; jedoch hoffe ich, daß Sie dieselbe, so wie sie ist, für das, was      
  sie eigentlich seyn soll, ansehen werden. Ich habe es gleichfalls nicht      
  unterlassen können, bey der erst möglichen Gelegenheit, meine Erkenntlichkeit      
  gegen meinen Freund und Wohlthäter Weiss öffentlich an      
  den Tag zu legen. Sie wissen, unter welche große Verbindlichkeiten      
  ich mich gegen ihn befinde, und daher bin ich so frey gewesen, seinen      
  Nahmen dem Ihrigen beyzufügen. - Vermuthlich wird's Ihnen auffallend      
  seyn, daß ich die Natur der Crystallisation, und nicht lieber ein      
           
  Theil der medicinischen Praxis, zum Inhalt meiner Dissertation gewählt      
  habe. Verschiedene Betrachtungen und Umstände aber haben      
  mich hiezu bestimmt. - Ich habe verschiedene sowohl physiologische      
  als practische Abhandlungen in manuscript und beynahe zum Druck      
  fertig, davon ich sehr leicht eine oder die andere zu diesem Zwecke      
  hätte können abdrucken lassen; allein theils sind sie für eine Disputation      
  zu lang, und würden daher die Druckkosten sehr vermehrt haben; theils      
  enthalten sie ganz neue und den hiesigen Professoren und vielleicht      
  allen Aerzten wiederstreitende Meinungen, aus welchem Grunde ich      
  es für gut geachtet, sie nicht bey dieser Gelegenheit bekannt zu machen.      
  Ueberdem werden academische Streitschriften gewöhnlich so wenig geachtet      
  u. gelesen, daß es beynahe Schade ist, etwas wichtiges u. neues      
  darinn abzuhandeln. - Sobald ich aber nach Deutschland komme,      
  gedenke ich verschiedenes durch den Druk bekannt zu machen.      
           
  Die gegenwärtige Materie meiner Dissertation, wählte ich deshalb,      
  weil meines Wissens weder in Edinburgh noch auf irgend einer andern      
  Universität darüber eine Disputation geschrieben worden, und ich eben      
  einige Schriften darüber gelesen, und Unterredungen gehabt hatte;      
  wozu noch kömmt, daß Chemie jetzt die Modewissenschaft ist. Ich      
  hatte nicht volle 14 Tage zur Ausarbeitung derselben, bin aber doch      
  so glücklich gewesen, den Beyfall der ganzen Facultät und besonders      
  Dr. Blacks zu erhalten, und sie wird unter die acta der Königlich      
  medicinisch[en] Gesellschaft wieder abgedrukt werden. - Ietzt bin ich      
  mit Ausarbeitung eines cursus physiologischer Vorlesungen beschäftiget,      
  die sehr viel wichtiges u. neues enthalten sollen; wie auch mit einer ausführlichen      
  Abhandlung über die Natur und Heilmethode aller Lähmungen      
  und Apoplexien, welche letztere ich bald zum Druk fertig haben werde.      
  Es ist zum Erstaunen, wieviel Irrthümer und Vorurtheile etc. in der      
  Heilkunst stattfinden, und wieviel sich darin thun und aufklären läßt.      
  Ich hoffe, es wird sich bald von Edinburgh aus ein neues Licht über      
  die ganze Medicin verbreiten. - Da ich durch die Güte meiner      
  Gönner in dem Zustande versetzt worden, meinem Wunsche gemäs,      
  noch den nächsten Winter hier verweilen zu können: so werde ich mich      
  bis zu Ende Februars in Edinburgh aufhalten, u. dann durch England      
  und Holland nach Göttingen gehen. Ich gedenke im Monat      
  May in Göttingen zu seyn, um den Unterricht der dasigen großen      
  Gelehrten, besonders aber die Bibliothek zu benutzen. - Göttingen      
           
  will ich im September verlassen, und wünsche dann, bevor ich nach      
  Berlin komme, noch einige der deutschen Universitäten, zE Halle, Iena,      
  Leipzig zu besuchen. - Herr Graf Reden, der vor einigen Iahren in      
  Königsberg gewesen und Sie persönlich kennt, hält sich seit einiger      
  Zeit hier auf, und bittet mich, ihn Ihrem Andenken zu empfhelen.      
  Ich habe mit ihm ganz genaue Bekanntschaft, so daß wir uns einander      
  oft besuchen. Er kommt sehr oft auf meine Stube. Er ist jetzt      
  Geheime OberfinanzRath u. Berg=Director in preuß. Diensten, und      
  er hat mich schon in seinen Briefen an einige Minister in Berlin      
  empfholen. - Ich bitte recht sehr, mich Herrn Geh. Rath. Hippel, u.      
  Herrn Prof Kraus bestens zu empfhelen u. Herrn Motherby in meinem      
  Nahmen für seine grosmüthige Unterstützung meinen besten Dank zu      
  sagen. - Ich wünsche Ihnen stete u. fortdaurende Gesundheit, damit      
  ich so glüklich seyn möge bey meiner Zurükkunft ferner Ihre Wohlgewogenheit      
  zu genießen. Ich verbleibe mit der unbeschränktesten      
  Hochachtung      
           
  Ew. Wohlgebohren ergebenster Diener      
           
  Iachmann.      
           
           
           
     

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