Kant: Briefwechsel, Brief 376, Von Iohann Wilhelm Andreas Kosmann. |
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Von Iohann Wilhelm Andreas Kosmann. | |||||||
Schweidniz in Schlesien den 30ten August | |||||||
1789 | |||||||
Wohlgebohrner, Hochgelehrter, | |||||||
Hochzuverehrender Herr Professor! | |||||||
Wenn ich diesen Brief an Ew. Wohlgeb: entschuldigen soll, so | |||||||
muß ich Ihnen erst eine kurze Skizze meiner Lebensgeschichte entwerfen. | |||||||
Ich bin eines Predigers Sohn aus Hessen und habe zu | |||||||
Gießen und Göttingen Theologie studirt. Die Ränke eines preußischen | |||||||
Werbers entrissen mich, da ich noch nicht volle 19 Iahr alt war, | |||||||
meinem Vaterlande und den Wissenschafften. Ich muste über 2 Iahr | |||||||
beym hiesigen Regiment als Gemeiner dienen. Meine gute Aufführung | |||||||
rührte das Herz meines Chefs und des hiesigen Kirchencollegii während | |||||||
dieser Zeit so daß ich meinen Abschied und eine Versorgung am hiesigen | |||||||
Lyceum als ordentlicher Lehrer der vierten Klasse erhielt. Ich hatte | |||||||
auf Universitaeten zwar viele rhapsodistische Kentniße eingesamlet gehabt, | |||||||
teils aber hatte ich als Soldat das meditiren verlernt teils auch | |||||||
nicht Zeit und Gelegenheit gehabt an eine systematische Ausbildung | |||||||
derselben zu denken, kurz in meinem Kopfe herrschete ein wahres | |||||||
Chaotisches Dunkel. In meiner Klasse und zwischen den Männern | |||||||
neben denen ich in den untern Classen lehrte hätte ich nun zwar | |||||||
immer meine Rolle spielen und der Welt vielleicht auch nützen können. | |||||||
Aber mein Geist strebte nach mehrerer Aufhellung der Begriffe. Ich | |||||||
hatte in Göttingen einmal Physik bey HE. Professor Beckmann gehört | |||||||
und erinnerte mich der Experimente noch mit Vergnügen. Ich | |||||||
wählte also Naturlehre und Logik zu meinen ersten Wissenschafften, | |||||||
die ich systematisch durchdenken und dann durch eigenes Nachdenken | |||||||
mir recht eigen machen wolte. Welches mir um so leichter schien, da | |||||||
ich die Physik für Spielwerck in Rüksicht ihrer Leichtigkeit und doch | |||||||
für höchst wichtig in Rüksicht ihrer Anwendung und die Logik für das | |||||||
schon ziemlich gefaßte Wolfische System hielt. Letztere brauchte blos zu | |||||||
lesen um mich in das Wolfische System wieder hienein zu denken. | |||||||
Erstere aber hatte mich getäuscht und gab eben dadurch meinem Verstand | |||||||
die glücklichste Richtung. C : j = t : T war mir unerklärbar. | |||||||
Ich legte vor 5 Iahren unwillig das Buch weg und legte mich mit | |||||||
allem Eifer, ohne alle Anweisung auf Mathematik. Ohngeachtet ich | |||||||
publice und privatim täglich 11 Stunden arbeiten muste und meine | |||||||
Berufsgeschäffte stets redlich erfülte so habe ich mich doch durch die | |||||||
ganze höhere und niedere Geometrie durchgearbeitet und die Analysis | |||||||
des Endlichen und Unendlichen genau durchdacht. Schulzens Einleitung | |||||||
in Ew. Wohlgeb: Vernunfftkritik und Iacobs Logik und | |||||||
Kritik der Metaphysik haben mir nun auch den Schlüßel zu der | |||||||
Kritik selbst gegeben. Eben dieses Successive fortschreiten in den | |||||||
Wissenschafften erregte nun seit einem Iahre den Wunsch in mir, eine | |||||||
andere Versorgung zu bekommen, wo ich mich den Wissenschafften | |||||||
ganz und mit mehr Muße widmen könte. Ich schrieb desfals an | |||||||
das geistliche Departement nach Berlin und erhielt den Bescheid, da | |||||||
ich in Franckfurth an der Oder pro Doctoris gradu disputiren, die | |||||||
Disputation dem geistlichen Departement einsenden und das weitere erwarten | |||||||
solle. Dies will ich zu Gallus thun und den Satz; "der | |||||||
Raum ist kein empirischer Begriff, der von äusern Erfahrungen abgezogen | |||||||
worden", vertheidigen. Ich teile Ew. Wohlgeb. dahero einen | |||||||
Einwurf gegen diesen Satz mit, erbitte mir die Lösung desselben, die | |||||||
ich zwar selbst schon gewagt habe, die ich aber doch noch nicht für | |||||||
apodiktisch halte. Es würde mir sehr lieb seyn, wenn ich baldige Antwort | |||||||
von Ihnen erhielte, weil ich meine dispute eher nicht will druken | |||||||
lassen, bis ich Ihren Brief erhalten und Ihre etwanigen Winke benutzt | |||||||
habe. Besonders bis ich weiß ob ich Sie denn auch eigentlich verstanden | |||||||
habe. Ein Geständniß daß einem 29jährigen Manne, in | |||||||
meiner individuellen Lage, in den Augen des großen Königsbergschen | |||||||
Philosophen keine Schande machen wird. | |||||||
Ihren Satz beweisen Sie also: "Damit gewisse Empfindungen | |||||||
auf etwas außer mir bezogen werden, (d. h. auf etwas in einem | |||||||
andern Orte des Raums, als darinn ich mich befinde) ingleichen | |||||||
damit ich sie als außer und neben ein ander, mithin nicht blos verschieden, | |||||||
sondern auch als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu | |||||||
muß die Vorstellung des Raums schon zum Grunde liegen." Herrn | |||||||
Feders Einwurf den er S. 23. in seiner Schrifft über Raum und | |||||||
Caussalitaet macht, trifft Sie nicht, er hätte es darthun müssen, da | |||||||
ein Subject A gewisse Beziehungen einer Sache x die ich B nennen | |||||||
will sich vorstellen könne, ohne daß es an die Form C gebunden wäre, | |||||||
welche diese Beziehungen B ihm selbst erst möglich macht. Es müste | |||||||
also möglich seyn, daß ein Subject A eine Sache C durch die Erfahrung | |||||||
sich vorstellen lernen könne, welche alle Erfahrungen doch selbst | |||||||
erst möglich machen soll. Wie kann also der Begriff des Raums aus | |||||||
dem dunkeln Chaos der ersten sinnlichen Eindrükke hervor gegangen | |||||||
seyn? - doch ich will Ew. Wohlgeb. mit meinen seichten Wiederlegungen | |||||||
nicht ferner incommodiren, sondern blos die Einwürfe, die | |||||||
ich mir selbst gemacht habe, HE. Professor Feder in den Mund legen | |||||||
und Ihre Lösung derselben erwarten, um sie mit den Meinigen zusammen | |||||||
zu halten. Aber könte Herr Feder sagen: die Schwere macht | |||||||
den Fall der Körper, denen ich ihr fulcrum entziehe, doch auch erst | |||||||
möglich und ist doch nicht die subjective Bedingung unter der wir uns | |||||||
allein den fallenden Körper vorstellen können: denn tausend haben | |||||||
einen Begriff von dem was fallen heist, ohne sich die Schwere vorzustellen. | |||||||
So sehr ich einsehe, daß dieser Fall gar nicht identisch mit | |||||||
dem vorigen Satz ist, so traute ich mir doch zu bey mehrerem speculativem | |||||||
Nachdencken hierher passend zu machen. Auf eine ähnliche | |||||||
vorausgesetzte Sache muß Herr Feder wenigstens seinen Satz, "die | |||||||
Vorstellung des Raums, als allmähliches Produkt der mit einander | |||||||
vereinigten Empfindungen des Gesichts und des Gefühls zu halten", | |||||||
gebaut haben. Es ist wahr das Beyspiel der Blindgebohrnen lehrt | |||||||
daß ihn das Gesicht nicht erzeuge, aber ob auch nicht das Gefühl? | |||||||
das ist doch einer Untersuchung werth. 1 , ist es doch ausgemacht, da | |||||||
die Vorstellung vom Raume durch und an dem Gefühl ( tactus ) entwikkelt | |||||||
werde und wenn auch 2, der Gedancke der Seele, ein Finger | |||||||
sey auser dem andern schon den Begriff vom Raume voraussetzt; | |||||||
So entwikkelt sich ja auch das Gefühl viel eher beym Menschen als | |||||||
die Seele denken kann. So bald der männliche Saame nemlich das | |||||||
weibliche Ey befruchtet hat, so entstehet in der Höle der Gebährmutter | |||||||
ein feines Adern Gewächse u. am 17 Tag nach der Empfängniß entstehet | |||||||
die menschliche Gestalt, mit diesem Gewachse steht durch den | |||||||
Nabelring der junge foetus in einer steten Verbindung. Seit der | |||||||
Empfängnis aber und bis zur Geburth werden stete Eindrüke auf | |||||||
das junge Körperchen gemacht, die in der Bewegung bestehen, ja vom | |||||||
4 Monathe an bewegt sich das Körperchen selbst. Folglich gehet doch | |||||||
vor dem Zustand klarer Vorstellungen der Seele, oder vor der Geburth, | |||||||
ein Zustand der Seele vorher, da sie sich diese eigene Bewegungen | |||||||
ihres Körperchens oder den Druck des Mutterkuchens auf | |||||||
ihr Körperchen vorstellen muste? Dieses konten aber keine andere als | |||||||
empirische Vorstellungen seyn und musten folglich den Begriff des | |||||||
Raumes in ihr erzeugen? Folglich wäre der Begriff vom Raum unser | |||||||
erster Begriff, aus unserer Grundempfindung entstanden. Da wir | |||||||
uns das absolute Nichts nun gar nicht denken können, eben weil es | |||||||
nicht in unsere Sinne fält und weil wir uns unter dem Nichts blos | |||||||
das + a - a denken, das Hinwegnehmen einer vorher dagewesenen | |||||||
Empfindung oder Realitaet, so können wir uns zwar alle Empfindungen | |||||||
die wir durch die Erfahrung samleten hinwegdenken, aber unsere erste | |||||||
Empfindung, die den Begriff des Raumes erzeugte, können wir uns | |||||||
unmöglich hinwegdenken, weil sich unsere Seele sonst in den Zustand | |||||||
der Embrionen Seele wieder müste versezzen können oder weil sie sich | |||||||
sonst etwas denken müste, das nie in ihre Sinne gefallen wäre und | |||||||
von dem Sie keinen Begriff hätte. Da nun der Begriff vom Raum | |||||||
das Resultat der Grundempfindung aller Menschen wäre und bey | |||||||
allen Menschen auf dieselbe Art entstanden wäre, so müsten auch alle | |||||||
Axiome vom Raum apodiktische Gewisheit haben. Diese Gewisheit | |||||||
müste wenigstens subjectiv für die Menschen seyn, weil das Gegentheil | |||||||
dieser Axiome allen unsern Begriffen, unseres ganzen Gedanken | |||||||
Systemes wiedersprechen würden. Ich werde die baldige Antwort Ew. | |||||||
Wohlgeb. als eine wahre Wohlthat erkennen und so nenne ich mich | |||||||
mit der Versicherung daß ich vorzüglich ehre, liebe und hochschäzze | |||||||
Ew. Wohlgebohren | |||||||
ganz gehorsamster Diener | |||||||
I. W. A. Kosmann. | |||||||
Meine Adresse ist: an den Schullehrer Kosmann am Lyceum | |||||||
vor Schweidniz auf dem Kirchhof wohnhafft. | |||||||
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