Kant: Briefwechsel, Brief 37, Von Iohann Heinrich Lambert. |
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| Von Iohann Heinrich Lambert. | |||||||
| 3. Febr. 1766. | |||||||
| Mein Herr! | |||||||
| Dero geschätztestes Schreiben vom 31ten Xbris ist mir in allwegen | |||||||
| verbindlich, und besonders erstatte auch den ergebensten Dank | |||||||
| für die wegen Herrn Kanter gütigst übernommene Mühe. Es wird | |||||||
| mir sehr lieb seyn, denselben, seiner Zusage gemäß, auf Ostern hier | |||||||
| zu sehen und das nöthige mit ihm zu verabreden, so wie ich auch | |||||||
| wegen des Calenderwesens verschiedenes mit ihm werde zu sprechen | |||||||
| haben, da ich es bey der Academie übernommen, die Einrichtung desselben | |||||||
| in bessern Stand zu setzen, und neue Calenderarten zu veranstallten. | |||||||
| Dörfte ich Sie, Mein Herr, bitten, dieses dem Herrn Kanter gelegentlich | |||||||
| zu sagen, da ich auf sein Schreiben dermalen weiter | |||||||
| nichts zu antworten habe. Aber suchen Sie, mein Herr, auch Gefälligkeiten | |||||||
| auf, die von mir oder meinem hiesigen Aufenthalte abhängen, | |||||||
| damit ich nicht Ihr Schuldner bleibe. | |||||||
| Es ist unstreitig, daß wenn immer eine Wissenschaft methodisch | |||||||
| muß erfunden und ins reine gebracht werden, es die Metaphysic ist. | |||||||
| Das Allgemeine, so darinn herrschen solle, führt gewisser maaßen auf | |||||||
| die Allwissenheit, und in so ferne über die möglichen Schranken der | |||||||
| menschlichen Erkenntnis hinaus. Diese Betrachtung scheint anzurathen, | |||||||
| daß es besser seye, stückweise darinn zu arbeiten, und bey | |||||||
| jedem Stücke nur das zu wissen verlangen, was wir finden können, | |||||||
| wenn wir Lücken, Sprünge und Circul vermeyden. Mir kömmt vor, | |||||||
| es seye immer ein unerkannter Hauptfehler der Philosophen gewesen, | |||||||
| daß sie die Sache erzwingen wollten, und anstatt etwas unerörtert | |||||||
| zu lassen, sich selbst mit Hypothesen abspeiseten, in der That aber | |||||||
| dadurch die Entdeckung des Wahren verspäthigten. | |||||||
| Die Methode, die Sie, Mein Herr, in ihrem Schreiben anzeigen | |||||||
| ist ohne alle Wiederrede die einige, die man sicher und mit | |||||||
| gutem Fortgange gebrauchen kann. Ich beobachte sie ungefehr auf | |||||||
| folgende Art, die ich auch in dem letzten Hauptstücke der Dianoiologie | |||||||
| vorgetragen. 1° Zeichne ich in kurzen Sätzen alles auf, was mir über | |||||||
| die Sache einfällt, und zwar so und in eben der Ordnung, wie es | |||||||
| mir einfällt, es mag nun für sich klar, oder nur vermuthlich, oder | |||||||
| zweifelhaft, oder gar zum Theil einander wiedersprechend seyn. | |||||||
| 2°. Dieses setze ich fort, biß ich überhaupt merken kann, es werde sich | |||||||
| nun etwas daraus machen lassen. 3° Sodann sehe ich, ob sich die | |||||||
| einander etwann zum Theil widersprechende Sätze, durch nähere Bestimmung | |||||||
| und Einschränkung vereinigen laßen, oder ob es noch dahin | |||||||
| gestellt bleibt, was davon beybehalten werden muß. 4°. Sehe ich, | |||||||
| ob diese Sammlung von Sätzen zu einem oder zu mehrern Ganzen | |||||||
| gehören. 5°. Vergleiche ich sie, um zu sehen, welche von einander abhängen, | |||||||
| und welche von den andern vorausgesetzt werden, Und dadurch | |||||||
| fange ich an sie zu numerotiren. 6°. Sodann sehe ich, ob die ersten | |||||||
| für sich offenbar sind, oder was noch zu ihrer Aufklärung und genauern | |||||||
| Bestimmung erfordert wird, und eben so 7°. was noch erfordert | |||||||
| wird, um die Übrigen damit in Zusammenhang zu bringen. 8°. Überdenke | |||||||
| ich sodann das Ganze, theils um zu sehen, ob noch Lücken | |||||||
| darinn sind oder Stücke mange[l]n, theils auch besonders um | |||||||
| 9°. die Absichten aufzufinden, wohin das ganze System dienen | |||||||
| kann, und 10°. zu bestimmen, ob noch mehr dazu erfordert wird. | |||||||
| 11°. Mit dem Vortrage dieser Absichten mache ich sodann gemeiniglich | |||||||
| den Anfang, weil dadurch die Seite beleuchtet wird, von | |||||||
| welcher ich die Sache betrachte. 12°. Sodann zeige ich, wie ich zu | |||||||
| den Begriffen gelange, die zum Grunde ligen, Und warum ich sie | |||||||
| weder weiter noch enger nehme. Besonders suche ich dabey 13°. das | |||||||
| Vieldeutige in den Worten und Redensarten aufzudecken, und beyde, | |||||||
| wenn sie in der Sprache vildeutig sind, vieldeutig zu lassen, das will | |||||||
| sagen, ich gebrauche sie nicht als Subiecte sondern höchstens nur als | |||||||
| Praedicate, weil die Bedeutung des Praedicates sich nach der Bedeutung | |||||||
| des Subiectes bestimmt. Muß ich sie aber als Subiecte gebrauchen, | |||||||
| so mache ich entweder mehrere Sätze daraus, oder ich suche | |||||||
| das Vieldeutige durch Umschreibung zu vermeyden etc. | |||||||
| Dieses ist das Allgemeine der methode, die sodann in besondern | |||||||
| Fällen noch sehr vile besondere Abwechslungen und Bestimmungen erhält, | |||||||
| die in Beyspielen fast immer klarer sind, als wenn man sie mit | |||||||
| logischen Worten ausdrückt. Worauf man am meisten zu sehen hat, | |||||||
| ist, daß man nicht etwann einen Umstand vergesse, der nachgehends | |||||||
| alles wiederum ändert. So muß man auch sehen und gleichsam | |||||||
| empfinden können, ob nicht etwann noch ein Begriff, das will sagen, | |||||||
| eine Combination von einfachen Merkmalen, verborgen, der die ganze | |||||||
| Sache in Ordnung bringt und abkürzt. So können auch versteckte | |||||||
| Vildeutigkeiten der Worte machen, daß man immer auf Dissonanzen | |||||||
| verfällt, und lange nicht weis, warum das vermeynte Allgemeine in | |||||||
| besondern Fällen nicht passen will. Man findet ähnliche Hindernisse, | |||||||
| wenn man als eine Gattung ansieht, was nur eine Art ist, und die | |||||||
| Arten confundirt. Die Bestimmung und Möglichkeit der Bedingungen, | |||||||
| welche bey jeden Fragen vorausgesetzt werden, fordern auch eine besondere | |||||||
| Sorgfallt. | |||||||
| Ich habe aber allgemeinere Anmerkungen zu machen Anlaß gehabt. | |||||||
| Die erste betrift die Frage, ob oder wieferne die Kenntnis der | |||||||
| Form zur Kenntnis der Materie unseres Wißens führe? Diese | |||||||
| Frage wird aus mehreren Gründen erheblich. Denn 1. ist unsere | |||||||
| Erkentnis von der Form, so wie sie in der Logic vorkömmt, so unbestritten | |||||||
| und richtig als immer die Geometrie. 2. Ist auch nur dasjenige | |||||||
| in der metaphysic, was die Form betrift, unangefochten geblieben, | |||||||
| da hingegen, wo man die Materie zum Grunde legen wollte, | |||||||
| gleich Streitigkeiten und Hypothesen entstunden. 3. Ist es in der | |||||||
| That noch nicht so ausgemacht gewesen, was man bey der Materie | |||||||
| eigentlich zum Grunde legen sollte. Wolf nahme Nominaldefinitionen | |||||||
| gleichsam. gratis an, und schob oder versteckte, ohne es zu bemerken, | |||||||
| alle Schwürigkeiten in dieselben. 4. Wenn auch die Form schlechthin | |||||||
| keine Materie bestimmt, so bestimmt sie doch die Anordnung derselben, | |||||||
| und in so ferne solte aus der Theorie der Form kenntlich gemacht werden | |||||||
| können, was zum Anfange dient oder nicht. 5°. Ebenso kann auch dadurch | |||||||
| bestimmt werden, was zusammengehört oder vertheilt werden muß &c. | |||||||
| Bey dem Überdenken dieser Umstände und Verhältnisse der Form | |||||||
| und Materie bin ich auf folgende Sätze gefallen, die ich schlechthin | |||||||
| nur Anführen will. | |||||||
| 1°. Die Form gibt Principia, die Materie aber Axiomata und | |||||||
| Postulata . | |||||||
| 2°. Die Form fordert, daß man bey einfachen Begriffen anfange, | |||||||
| weil diese für sich und zwar, weil sie einfach sind, keinen | |||||||
| innern Widerspruch haben können, oder für sich davon frey | |||||||
| und für sich gedenkbar sind. | |||||||
| 3°. Axiomata und Postulata kommen eigentlich nur bey einfachen | |||||||
| Begriffen vor. Denn zusammengesetzte Begriffe sind a priori | |||||||
| nicht für sich gedenkbar. Die Möglichkeit der Zusammensetzung | |||||||
| muß erst aus den Grundsätzen und Postulatis folgen. | |||||||
| 4°. Entweder es ist kein zusammengesetzter Begriff gedenkbar, oder | |||||||
| die Möglichkeit der Zusammensetzung muß schon in den einfachen | |||||||
| Begriffen gedenkbar seyn. | |||||||
| 5°. Die einfachen Begriffe sind individuelle Begriffe. Denn | |||||||
| Genera und Species enthalten die Fundamenta diuisionum | |||||||
| et subdiuisionum in sich, und sind eben dadurch desto zusammengesetzter, | |||||||
| je abstracter und allgemeiner sie sind. Der | |||||||
| Begriff Ens ist unter allen der Zusammengesetzteste. | |||||||
| 6°. Nach der Leibnizischen Analyse, die durchs Abstrahiren und | |||||||
| nach Ähnlichkeiten geht, kömmt man auf desto zusammengesetztere | |||||||
| Begriffe, je mehr man abstrahirt, und mehrentheils | |||||||
| auf nominale Verhältnisbegriffe, die mehr die Form als die | |||||||
| Materie angehen. | |||||||
| 7°. Hinwiederum da die Form auf lauter Verhältnisbegriffe geht, | |||||||
| so gibt sie keine andere als einfache Verhältnisbegriffe an. | |||||||
| 8°. Demnach müssen die eigentlich obiective einfache Begriffe aus | |||||||
| dem directen Anschauen derselben gefunden werden, das will | |||||||
| sagen, man muß auf gut anatomische Art, die Begriffe | |||||||
| sämtlich vornehmen, jeden durch die Musterung gehen lassen, | |||||||
| um zu sehen, ob sich mit Weglassung aller Verhältnisse in | |||||||
| dem Begriff selbst mehrere andere finden oder ob er durchaus | |||||||
| einformig ist. | |||||||
| 9°. Einfache Begriffe sind von einander, wie Raum und Zeit, | |||||||
| das will sagen, ganz verschieden, leicht kenntlich, leicht benennbar, | |||||||
| und so gut als unmöglich zu confundiren, wenn | |||||||
| man von den Graden abstrahirt, und nur auf das Quale | |||||||
| sieht. Und in so fern glaube ich, daß in der Sprache kein | |||||||
| einiger unbenennt geblieben. | |||||||
| Nach diesen Sätzen trage ich kein Bedenken zu sagen, daß Locke | |||||||
| auf der wahren Spur gewesen, das einfache in unserer Erkenntnis | |||||||
| aufzusuchen. Man muß nur weglassen, was der Sprachgebrauch mit | |||||||
| einmengt. So z. E. ist in dem Begriffe Ausdehnung unstreitig | |||||||
| etwas indiuiduelles einfaches, welches sich in keinem andern Begriffe | |||||||
| findet. Der Begriff Dauer, und eben so die Begriffe Existenz, | |||||||
| Bewegung, Einheit, Soliditaet &c. haben etwas einfaches, das | |||||||
| denselben eigen ist, und welches sich von den vilen dabey mit vorkommenden | |||||||
| Verhältnisbegriffen sehr wohl abgesöndert gedenken läßt. | |||||||
| Sie geben auch für sich Axiomata und Postulata an, die zur wissenschaftlichen | |||||||
| Erkenntnis den Grund legen, und durchaus von gleicher | |||||||
| Art sind, wie die Euclidischen. | |||||||
| Die andere Anmerkung, die ich zu machen Anlaß hatte, betrift | |||||||
| die Vergleichung der philosophischen Erkentnis mit der Mathematischen. | |||||||
| Ich sahe nemlich, daß wo es den Mathematickern gelungen ist, ein | |||||||
| neues Feld zu eröfnen, das die Philosophen biß dahin ganz angebaut | |||||||
| zu haben glaubten, erstere nicht nur alles wieder umkehren mußten, | |||||||
| sondern es so aufs einfache und gleichsam aufs einfältige brachten, | |||||||
| daß das Philosophische darüber ganz unnütz und gleichsam verächtlich | |||||||
| wurde. Die einige Bedingung, daß nur homogenea können addirt | |||||||
| werden, schleußt bey dem Mathematicker alle philosophischen Sätze | |||||||
| aus, deren Praedicat sich nicht gleichförmig über das ganze Subiect | |||||||
| verbreitet, und solcher Sätze gibt es in der Weltweisheit noch gar zu | |||||||
| viele. Man nennt eine Uhr gülden, wenn kaum das Gehäuse von | |||||||
| Gold ist. Euclid leitet seine Elemente weder aus der Definition des | |||||||
| Raumes noch aus der von der Geometrie her, sondern er fängt bey | |||||||
| Linien, Winkeln &c. als dem einfachen in den Dimensionen des | |||||||
| Raumes an. In der mechanic macht man aus der Definition der | |||||||
| Bewegung nicht viel Wesens, sondern man schaut sogleich, was | |||||||
| dabey vorkömmt, nemlich ein Körper, die Direction, Geschwindigkeit, | |||||||
| Zeit Kraft und Raum, und diese Stücke vergleicht man unter | |||||||
| einander, um Grundsätze zu finden. Ich bin überhaupt auf den | |||||||
| Satz geleitet worden, daß so lange ein Philosoph in denen obiecten, | |||||||
| die ein Ausmeßen zulaßen, das Auseinanderlesen nicht so weit treibt, | |||||||
| daß der Mathematiker dabey sogleich Einheiten, Maaßstäbe und | |||||||
| Dimensionen finden kann, dieses ein sicheres Anzeichen ist, daß der | |||||||
| Philosoph noch Verwirrtes zurücke lasse, oder daß in seinen Sätzen | |||||||
| die Praedicate sich nicht gleichförmig über die Subiecte verbreiten. | |||||||
| Ich erwarte mit Ungedult, daß die beyden Anfangsgründe der | |||||||
| natürlichen und practischen Weltweisheit im Drucke erscheinen, und | |||||||
| bin ganz überzeugt, daß sich eine ächte Methode am besten und | |||||||
| sichersten durch Vorlegung wirklicher Beyspiele anpreist, um so mehr | |||||||
| weil man sie in Beyspielen mit allen Indiuidualien zeigen kann, da | |||||||
| sie hingegen logisch ausgedrückt leicht zu abstract bleiben würde. Sind | |||||||
| aber einmal Beyspiele da, so sind logische Anmerkungen darüber ungemein | |||||||
| brauchbar. Beyspiele thun dabey eben den Dienst, den die Figuren | |||||||
| in der Geometrie thun, weil auch diese eigentlich Beyspiele oder | |||||||
| specielle Fälle sind. | |||||||
| Doch ich breche dermalen ab, mit der Versicherung daß mir die | |||||||
| Fortsetzung ihrer Schreiben ausnehmend angenehm seyn werde, der | |||||||
| ich in Erwartung mit jeder Dienstgeflissenheit bin | |||||||
| Mein Herr | |||||||
| Dero | |||||||
| Berlin den 3 Febr. 1766. | Ergebenster Diener | ||||||
| an der Ecke der Cronenstraße | IH Lambert. | ||||||
| und Schinkenbrücke im Bethgenschen Hause. | |||||||
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