Kant: AA XVI, L §. 5. IX 21--33. [Begriff und ... , Seite 054

     
           
 

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  01 imagination abgezogene Betrachtung, also durch den intellectum purum,      
  02 erkannt werden; 2. diejenige, welche die gründe vermittelst der Vergleichung      
  03 sinnlicher Vorstellungen unmittelbar abnimmt. Die erste ist die Philosophie      
  04 im eigentlichen Verstande, die zweyte die Mathematik. Diese Erklärungen      
  05 bestimmen das specifische Merkmal beyder Wißenschaften. Wir      
  06 können aber in verschiedener absicht sinnliche Vorstellungen mit einander      
  07 vergleichen. Allein in absicht auf die Gründe können wir keine andere      
  08 Vergleichung anstellen, die unmittelbar darauf führen solte durch die Sinne      
  09 auf die Erkenntniß des Grundes führen solte, als in so fern sie die Größe      
  10 betrift. Folglich ist die Mathematik die einzige wißenschaft, wo eine      
  11 deutliche Einsicht der Gründe unmittelbar von den Sinnen oder der Vertreterin      
  12 der Einbildungskraft, abhängt. e. g. Wenn ich fühle, das das      
  13 Feuer brennt. Denn die Erkentniß der Größe ist nichts anderes als      
  14 bricht ab.      
           
  15 (g Die Mathematick wird darum nicht als eine besondere Wißenschaft      
  16 abgehandelt, weil sie zu groß ist. )      
           
  17 Man könte vielleicht sagen: die Philosophie sey durch ihre definition      
  18 nicht genugsam von der Mathematic unterschieden, weil diese auch die      
  19 Gründe der Gründe Dinge, nemlich in so ferne man ihre Größe considerirt,      
  20 betrachtet. Solte man also nicht sagen: der mathematicus habe      
  21 eine philosophische Erkentniß von den Verhältnissen der Größen. Er beweißt      
  22 ja? Es ist hiebey zu betrachten, daß in der Mathematik der Grund      
  23 und deßen die Abhängigkeit der Verhaltniße von diesem Grunde durch      
  24 eine reihe sinnlicher Vergleichungen oder solcher Vorstellungen, die alle      
  25 können sinnlich gemacht werden, hergeleitet und erkant wird. z. E. Was      
  26 vor eine verhältniß alle drey Winkel in einem triangel zu denen Winkeln      
  27 zwey rechten haben, die in einem halben zirkel begriffen werden können.      
  28 Dieses zusamt dem Grunde kan man einsehen, indem man alle darauf      
  29 führende Begriffe auf der Tafel zeichnet und sinnlich macht. Allein die      
  30 Philosophie erfordert eine solche Einsicht der Gründe, deren Verbindung      
  31 mit dem daraus abgeleiteten nicht durch eine unmittelbare sinnliche Reihe      
  32 Vorstellungen, folglich per intellectum purum begriffen wird. Wenn ich      
  33 z. E. frage: woher nach dem der Mond zu gewißen Zeiten verfinstert wird,      
  34 so kan ich dieses nicht anders einsehen, als wenn ich voraus gesetzt habe:      
  35 ein Korper, der sein eigen licht nicht hat, aber einem andern lichte ausgesetzt      
     

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