Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 100 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Steckenpferd, nämlich aufgeklärt beym Auslande zu heisen. Dieses | ||||||
02 | ist die Aegide der kritischen Philosophie in Salzburg, die sie aber | ||||||
03 | wohl bey seinem Tode verliehren wird. In München ist an keine | ||||||
04 | kritische Philosophie zu denken, da Stattler hier wohnt und regiert. | ||||||
05 | Doch fehlt es keineswegs an einzelnen Männern, die im geheime | ||||||
06 | dieses Sistem studieren, und zu nützen suchen. Ihre Schriften sind | ||||||
07 | da, wie in Oesterreich Kontrebande, besonders aber Ihr Religionswerk. | ||||||
08 | O warum hat doch die Wahrheit gegen sovieles zu kämpfen, | ||||||
09 | bis sie nur halb ihre Stimme geltend mache! Haben Männer sich so | ||||||
10 | sehr gegen die kritische Philosophie gesträubt, so macht sie ihr Glück | ||||||
11 | leichter bey Weibern. Sie glauben nicht, wie enthusiastisch Mädchen | ||||||
12 | und Frauen für Ihr Sistem eingenommen sind, und wie allgemein | ||||||
13 | diese wünschen, es zu kennen. Hier in Würzburg kömmt man in | ||||||
14 | viele Frauenzimmergesellschaften, wo man sich beeifert, vor andern | ||||||
15 | mehr Kenntniß Ihres Sistems zu zeigen, und wo es stets das Lieblingsgespräch | ||||||
16 | ausmacht. Ia, was gewiß seltene Erscheinung ist, man | ||||||
17 | hält sich nicht allein in den Schranken des praktischen Theiles, sondern | ||||||
18 | wagt sich auch in das theoretische. | ||||||
19 | Sie erlauben, daß ich mich eines Zweifels wegen, den ich im | ||||||
20 | Naturrechte habe, an Sie wende, und Sie darum befrage. Herr | ||||||
21 | Professor Schmalz stellt in seinem Naturrechte den Satz auf, da | ||||||
22 | Verträge nicht verbindlich seyen: die hinzugekommene Leistung mache | ||||||
23 | sie erst verbindlich. Dieser Satz macht viel Glück bey uns: allein ich | ||||||
24 | finde immer soviel vom positiven Rechte entlehntes darinne, und ich | ||||||
25 | kann mich auf keine Art befriedigen. Herr Professor Schmalz macht, | ||||||
26 | wie es auch sein muß, das Princip der Vernunft zum Principe des | ||||||
27 | Naturrechtes. Dieses Princip gebiethet einmal ohne Ausnahme | ||||||
28 | Wahrhaftigkeit; warum sollte es hernach im Naturrechte indifferent | ||||||
29 | seyn? und man hier eines Grundes, der Leistung, bedürfen, der zur | ||||||
30 | Wahrhaftigkeit verbinde. Ich habe den nöthigen Unterschied zwischen | ||||||
31 | Moral und Naturrecht vor Augen: Allein wenn ein gleiches Princip | ||||||
32 | einmal ohne Ausnahme gebietet, warum sollte es ein andresmal verstummen? | ||||||
33 | Bey vollkommenen Pflichten darf, glaube ich, nie eine | ||||||
34 | Lücke stattfinden, die die Moral ausfülle, wenn dieses gleich bey unvollkommenen | ||||||
35 | Pflichten stattfindet. Macht zudem Leistung den Vertrag | ||||||
36 | erst verbindlich, so zerfällt, meinem Dünken nach, das Wesen | ||||||
37 | des Vertrags, da sich jeder hüten wird, einen Vertrag zu schliesen, | ||||||
[ Seite 099 ] [ Seite 101 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |