Kant: AA XI, Briefwechsel 1794 , Seite 509 |
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| 01 | deutlich aufgewickelt. Mein letzter Brief an Sie, konnte Ihnen vieleicht | ||||||
| 02 | eine schlimme Vermuthung in Ansehung meiner Bearbeitung beygebracht | ||||||
| 03 | haben. Denn da ich mir das, warum ich Sie fragte, selbst nicht | ||||||
| 04 | deutlich dachte, so kam es, daß ich auch ganz unverständlich fragen | ||||||
| 05 | mußte. Im ganzen Ernst, ich habe mich in Ihre Entwickelung sehr | ||||||
| 06 | genau hineinstudirt, und ich meyne daß Sie so urtheilen werden, wenn | ||||||
| 07 | Sie mein Buch ansehen werden. | ||||||
| 08 | Schätzungswürdiger Mann, ich bin auf die Idee zu einer Schrift | ||||||
| 09 | gestoßen, die ich Ihnen hier ganz kurz vorlegen, und dabey bitten will, | ||||||
| 10 | Ihre wahre Meynung deshalb meinem Verleger zu sagen. | ||||||
| 11 | Sie führen Ihren Leser in Ihrer Critick der reinen Vernunft, | ||||||
| 12 | allmählig, zu dem höchsten Punct der Transcendentalphilosophie, nämlich | ||||||
| 13 | zu der synthetischen Einheit. Sie leiten nämlich seine Aufmerksamkeit, | ||||||
| 14 | zuerst auf das Bewußtseyn eines Gegebenen, machen ihn nun auf | ||||||
| 15 | Begriffe, wodurch etwas gedacht wird, aufmerksam, stellen die Categorien | ||||||
| 16 | anfänglich auch als Begriffe, in der gewöhnlichen Bedeutung vor, und | ||||||
| 17 | bringen zuletzt Ihren Leser zu der Einsicht, daß diese Categorie eigentlich | ||||||
| 18 | die Handlung des Verstandes ist, dadurch er sich ursprünglich | ||||||
| 19 | den Begriff von einem Object macht, und das: ich denke ein Object, | ||||||
| 20 | erzeugt. Diese Erzeugung der synthetischen Einheit des Bewußtseyns | ||||||
| 21 | habe ich mich gewöhnt, die ursprüngliche Beylegung zu nennen. | ||||||
| 22 | Sie ist die Handlung, unter andern, die der Geometer postulirt, | ||||||
| 23 | wenn er seine Geometrie von dem Satze anfängt: sich den Raum vorzustellen, | ||||||
| 24 | und welcher er mit keiner einzigen discursiven Vorstellung | ||||||
| 25 | gleich kommen würde. So wie ich die Sache ansehe, so ist auch das | ||||||
| 26 | Postulat: durch ursprüngliche Beylegung sich ein Object vorstellen, das | ||||||
| 27 | höchste Princip der gesammten Philosophie, auf welchem die allgemeine | ||||||
| 28 | r[eine] Logik und die ganze Transc: Philosophie beruht. Ich bin daher | ||||||
| 29 | fest überzeugt, daß diese synthetische Einheit, derjenige Standpunct ist, | ||||||
| 30 | aus welchem, wenn man sich einmahl seiner bemächtigt hat, man nicht | ||||||
| 31 | allein in Ansehung dessen, was wohl ein analytisches und synthetisches | ||||||
| 32 | Urtheil ist, sondern was wohl überhaupt, a priori und a posteriori | ||||||
| 33 | heissen mag, was das sagen wolle, wenn die Critick die Möglichkeit | ||||||
| 34 | der geometrischen Axiome darin setzt, daß die Anschauung die man | ||||||
| 35 | ihnen unterlegt rein sey, was das wohl ist, was uns afficirt, ob das | ||||||
| 36 | Ding an sich, oder ob damit nur eine transsc: Idee gemeynt sey, oder | ||||||
| 37 | ob es nicht das Object der empirischen Anschauung selbst, die Erscheinung | ||||||
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