Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 485 |
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Text (Kant):
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01 | daß keine überflüssig waren; gern wollt' ich dem Lauf der Natur Stillstand | ||||||
02 | gebieten, um nur versichert zu sein, daß Sie vollenden können, | ||||||
03 | was Sie für uns angefangen, und gern wollt' ich meine künftigen | ||||||
04 | Lebenstage an die Ihrigen hängen, um Sie beim Ausgang der französischen | ||||||
05 | Revolution noch in dieser Welt zu wissen. | ||||||
06 | Ich hatte das Vergnügen, Erhard selbst zu sehen, welcher mir | ||||||
07 | sagte, daß Sie sich nach mir erkundigten, aus dem schloß ich, daß Sie | ||||||
08 | meinen Brief, bei Anfang des Iahrs 1793 erhalten haben, denn ich | ||||||
09 | habe keine Antwort bekommen, weil Sie's vermuthlich besser verstanden, | ||||||
10 | als ich, daß mir durch Ihre Werke der Weg schon gebahnt ist, selbst | ||||||
11 | drauf zu stoßen. Da ich voraussetze, daß Sie der Gang jedes Menschen | ||||||
12 | interessirt, der Ihrer Leitung so viel zu danken hat, als ich, so will | ||||||
13 | ich versuchen, Ihnen die ferneren Fortschritte meiner Stimmung und | ||||||
14 | Gesinnung mitzutheilen. Lange hatte ich mich gequält, und vieles | ||||||
15 | nicht vereint, denn ich mischte Gottes Anordnung in das Zufällige des | ||||||
16 | Schicksals, und begnügte mich nicht lediglich mit dem Gefühl von Dasein; | ||||||
17 | da sehen Sie nun gleich, wie es mir ging weil ich zu viel erwischte, | ||||||
18 | ich betrachtete die widrigen Zufälle des Lebens von ihm an | ||||||
19 | mich gesandt, und sträubte mich dagegen als gegen eine Ungerechtigkeit, | ||||||
20 | weil mich mein Bewußtsein der Schuld frei sprach, oder ich dachte es | ||||||
21 | nicht von ihm geordnet, und das Gefühl für ihn war zugleich auf | ||||||
22 | diesem Weg verloren. Endlich die Antinomien, welche die Hauptursache | ||||||
23 | meiner dauerhaften Genesung sind, hätten mich eben so leicht zu einer | ||||||
24 | unwideruflichen Handlung verleiten können, so lange zog ich damit | ||||||
25 | herum, denn darüber abzuschließen war ich nicht im Stande, bis dann | ||||||
26 | ganz auf einer andern Seite in mir ein moralisches Gefühl erwachte, | ||||||
27 | was fest neben den Antinomien stehen blieb, und ich fühlte von der | ||||||
28 | Zeit an, daß ich überwunden und meine Seele gesund sei. Es hat | ||||||
29 | mir indessen an langwierigen Widerwärtigkeiten des Lebens nicht gemangelt, | ||||||
30 | die meine dermalige Stimmung genugsam prüften, daß sie | ||||||
31 | endlich nach schwerer Arbeit einer unerschütterlichen Ruh' genießt. | ||||||
32 | Auch verstand ich in der Folge mir den Wunsch des Todes zu erklären, | ||||||
33 | was mir dazumal eine widernatürliche Verfolgung meiner selbst schien, | ||||||
34 | und mich es grad nach meiner Zernichtung lüstete, auch das Vergnügen | ||||||
35 | der Freundschaft, für welche mein Herz doch allzeit deutlich geschlagen, | ||||||
36 | schützte mich nicht davor; ich betrachtete auch das als einen unverdienten | ||||||
37 | Zustand, mit welchem ich kein anderes Wesen behaftet wissen | ||||||
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