Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 408 |
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01 | daß Sie mich nicht sprechen mochte; als einen Menschen der | ||||||
02 | nach bloßer Weltklugheit urtheilte, und kein Gefühl für das bloß individuel | ||||||
03 | moralisch richtige und wahre hätte. Ich weiß nicht ob es sich | ||||||
04 | mit ihr derzeit gebessert hat. Sie ist an der Klippe gescheitert, der | ||||||
05 | ich vielleicht mehr durch Glück als durch Verdienst entkam, an der | ||||||
06 | romantischen Liebe - Eine idealische Liebe zu realisiren hat sie sich | ||||||
07 | zuerst einen Menschen übergeben, der ihr Vertrauen mißbrauchte, und | ||||||
08 | wiederum einer solchen Liebe zu Gefallen hat sie dieß einem 2ten Liebhaber | ||||||
09 | gestanden - Dieß ist der Schlüßel zu ihren Brief. Wenn mein | ||||||
10 | Freund Herbert mehr Delicatesse hätte so glaube ich wäre sie noch zu | ||||||
11 | retten. Ihr jetziger Gemüthszustand, ist kurz dieser: Ihr moralisches | ||||||
12 | Gefühl ist mit der Weltklugheit völlig entzweyt, und dafür mit der | ||||||
13 | feinern Sinnlichkeit der Phantasie, im Bündniß. Für mich hat dieser | ||||||
14 | Gemüthszustand etwas rührendes und ich bedaure solche Menschen | ||||||
15 | mehr, als eigentlich Verrükte, und leider ist die Erscheinung häufig | ||||||
16 | daß Personen der Schwärmerey und den Aberglauben nur dadurch | ||||||
17 | entfliehen daß sie sich der Empfindeley den Eigendünkel und den | ||||||
18 | Traumglauben (fester Entschluß seine Chimären die man für Ideale | ||||||
19 | hält zu realisiren) in die Arme werfen, und glauben sie thun der | ||||||
20 | Wahrheit einen Dienst dadurch. | ||||||
21 | Mit meiner Frau kan ich mit Recht zufrieden seyn. | ||||||
22 | Nun leben Sie dießmal wohl. Ich werde nächstens Ihnen über | ||||||
23 | einige Gegenstände meiner jetzigen Untersuchungen consultiren, wo ich | ||||||
24 | in Ihren künftigen Schriften Belehrung zu erwarten habe, darüber | ||||||
25 | verlange ich keine Antwort. Ich kan mich so gut den Ihrigen nennen | ||||||
26 | als wenn Sie mein leiblicher Vater wären; denn Sie thaten mehr | ||||||
27 | an mir. | ||||||
28 | Ihr | ||||||
29 | Erhard. | ||||||
30 | N. S. Girtanner will immer wissen ob Sie seine Chemie gelesen | ||||||
31 | haben, und was Sie davon halten. | ||||||
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