Kant: AA XI, Briefwechsel 1789 , Seite 103 |
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Text (Kant):
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| 01 | nach der Ankunft Ihres Briefes besuchte er mich auf seiner Reise nach | ||||||
| 02 | Böhmen. Den ersten Besuch hatte ich im May von ihm erhalten, | ||||||
| 03 | und er blieb damahls bis ich nach Pyrmont verreiste. Windisch=Grätz | ||||||
| 04 | fühlt ganz den Werth des guten Zeugnisses, welches ein Mann wie | ||||||
| 05 | Kant ihm ertheilte, und er wußte nicht, wie er es mir nahe genug ans | ||||||
| 06 | Herz legen sollte, daß ich Sie doch ja recht nachdrücklich seiner größten | ||||||
| 07 | Hochachtung und vollkommensten Ergebenheit versichern möchte. Der | ||||||
| 08 | zweyte Theil seiner Histoire métaphysique de l'àme war damahls | ||||||
| 09 | schon abgedruckt. Ich habe seitdem Exemplare davon erhalten, und | ||||||
| 10 | werde das für Sie bestimmte nächstens nach Königsberg zu befördern | ||||||
| 11 | Gelegenheit haben, die Schriften dieses edeln Denkers können zur Verbesserung | ||||||
| 12 | der Gallischen Philosophie von großem Nutzen seyn; denn | ||||||
| 13 | da er immer von dieser Philosophie ausgeht; da sie wirklich die Unterlage | ||||||
| 14 | der seinigen ist, und er nur, bald in diesem bald in jenem ihrer | ||||||
| 15 | Theile das Unzulängliche und Unrichtige darzuthun bemüht ist: so | ||||||
| 16 | können die Anhänger dieser Philosophie nicht allein ihm folgen, sondern | ||||||
| 17 | auch ohne Unwillen, und ehe sie es selbst recht gewahr werden, noch | ||||||
| 18 | weiter gehen, als sie geführt wurden. Leider sind die Pariser Philosophen | ||||||
| 19 | ihrem deutschen Halbbruder schon ein wenig gram, weil es ihnen | ||||||
| 20 | deucht, er begünstige hie und da Vorurtheile, und halte den schnelleren | ||||||
| 21 | Fortgang der guten Sache auf. Sonderbar, daß die Menschen den | ||||||
| 22 | Fanatismus immer nur in einem bestimmten Gegenstande seiner Anwendung, | ||||||
| 23 | nie in ihm selbst erkennen wollen. | ||||||
| 24 | Unter den Bemerkungen, womit Sie, Verehrungswürdigster Kant, | ||||||
| 25 | die gütige Erwähnung der neuen Ausgabe meines Buches über die | ||||||
| 26 | Lehre des Spinoza begleiteten, hat folgendes meine Aufmerksamkeit besonders | ||||||
| 27 | an sich gezogen, und mich lange beschäftigt. Sie sagen: "Ob | ||||||
| 28 | "nun Vernunft, um zu diesem Begriffe des Theismus zu gelangen, | ||||||
| 29 | "nur durch etwas, was bloß Geschichte lehrt, oder nur durch eine uns | ||||||
| 30 | "unerforschliche übernatürliche innere Einwirkung, habe erweckt werden | ||||||
| 31 | "können, ist eine Frage, welche bloß eine Nebensache, nehmlich das | ||||||
| 32 | "Entstehen und Aufkommen dieser Idee betrifft . . . Genug daß man | ||||||
| 33 | "jetzt, da sie (diese Idee) einmahl da ist, jeden von ihrer Richtigkeit | ||||||
| 34 | "und Gültigkeit durch die bloße Vernunft überzeugen kann." | ||||||
| 35 | Was mich so sehr bey dieser Stelle beschäfftigte, war die Frage: | ||||||
| 36 | Wie sie sich auf meine Theorie beziehen, oder wie sie auf dieselbe sich | ||||||
| 37 | nicht beziehen könne. | ||||||
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