Kant: AA X, Briefwechsel 1775 , Seite 177

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Vermessenheit, sie so gar, einigen Nachrichten zu folge, bey seiner      
  02 Seelen Seeligkeit beschwören zu wollen, eben darin besteht eben der      
  03 moralische Glaube, welchen ich im Evangelio fand, wenn ich in der      
  04 Vermischung von Factis und offenbarten Geheimnissen die reine Lehre      
  05 aufsuchte die zum Grunde liegt. Es mochten zu seiner Zeit Wunder      
  06 und erofnete Geheimnisse nöthig gewesen seyn, um eine so reine      
  07 Religion welche alle Satzungen in der Welt aufhob, bey dem Wiederstande,      
  08 den sie am Iudenthum fand, zuerst einzuleiten und unter      
  09 einer großen Menge auszubreiten. Dabey waren viel Argumente      
  10 +GLG kat' anthro_pon + nöthig, die damaliger Zeit ihren großen Werth hatten.      
  11 Wenn aber die Lehre des guten Lebenswandels und der reinigkeit der      
  12 Gesinnungen im Glauben, (daß Gott das übrige, was unsrer Gebrechlichkeit      
  13 abgeht, ohne so genannte Gottesdienstliche Bewerbungen,      
  14 darinn zu allerzeit der Religionswahn bestandet hat, auf eine Art      
  15 die uns zu wissen gar nicht nöthig ist, schon ergänzen werde)      
  16 in der Welt als die einzige Religion, worin das wahre Heil      
  17 der Menschen liegt, einmal gnugsam ausgebreitet ist, so daß sie sich      
  18 in der Welt erhalten kan, so muß das Gerüste wegfallen, wenn schon      
  19 der Bau da steht. Ich verehre die Nachrichten der Evangelisten und      
  20 Apostel und setze mein demütiges Vertrauen auf das Versöhnungsmittel,      
  21 wovon sie uns historische Nachricht gegeben haben, oder auch      
  22 auf irgend ein anderes, was Gott in seinen geheimen Rathschlüssen      
  23 verborgen haben mag; denn ich werde dadurch nicht im mindesten ein      
  24 besserer Mensch, wenn ich dieses Mittel bestimmen kan, weil es nur      
  25 dasienige betrift was Gott thut, ich aber so vermessen nicht seyn kan,      
  26 ganz entscheidend vor Gott dieses als das wirkliche Mittel, unter      
  27 welchem allein ich von ihm mein Heil erwarte, zu bestimmen u. so      
  28 zu sagen Seel und Seeligkeit darauf zu verschweren; denn es sind      
  29 Nachrichten. Ich bin den Zeiten von welchen sie her sind nicht nahe      
  30 gnug, um solche gefährliche und dreuste Entscheidungen zu thun.      
  31 Überdem kan mich das auch nicht im mindesten der Zueignung dieses      
  32 Guten, wenn ich es auch ganz gewiß wüste, würdiger machen: da      
  33 ich es bekenne, betheure und meine Seele damit anfülle, ob es zwar      
  34 in einigen Gemüthern ein Hülfsmittel seyn kan, sondern es bleibt mir      
  35 nichts, um dieser göttlichen mitwürkenden Kraft theilhaftig zu werden,      
  36 übrig, als meine mir von Gott ertheilte natürliche Kräfte so zu      
  37 brauchen, daß ich dieser seiner Beyhülfe nicht unwürdig, oder, wenn      
  38 man lieber will, unfähig werde.      
           
     

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