Kant: AA X, Briefwechsel 1759 , Seite 028

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Nation zur Ehre eine Encyclopedie aufführen wollen; sie haben nichts      
  02 gethan. Warum ist es ihnen mislungen? und warum ist es ins      
  03 Stecken gerathen? Beyde Fragen hängen zusammen, und haben eine      
  04 gemeinschaftl. Auflösung. Die Fehler ihres Plans können uns mehr      
  05 unterrichten, als die guten Seiten deßelben.      
           
  06 Wenn wir an einem Ioche ziehen wollen; so müßen wir gleich      
  07 gesinnt seyn. Es ist also die Frage: ob Sie zu meinem Stoltz sich      
  08 erheben wollen, oder ob ich mich zu Ihrer Eitelkeit herunterlaßen soll?      
  09 Ich habe Ihnen schon im Vorbeygehen bewiesen, daß wir Hinderniße      
  10 finden werden, denen die Eitelkeit zu schwach ist ins Gesicht zu sehen,      
  11 geschweige zu überwinden.      
           
  12 Mein Stoltz kommt Ihnen unerträglich vor; ich urtheile von      
  13 Ihrer Eitelkeit weit gelinder. Ein Axiom ist einer Hypothese vorzuziehen;      
  14 die letztere aber ist nicht zu verwerfen; man muß sie aber      
  15 nicht wie einen Grundstein, sondern wie ein Gerüste gebrauchen.      
  16 Der Geist unsers Buchs soll moralisch seyn; Wenn wir es selbst      
  17 nicht sind, wie sollen wir denselben unserm Werke und unsern Lesern      
  18 mittheilen können. Wir werden, als Blinde, Leiter von Blinden zu      
  19 werden uns aufdringen, ich sage uns aufdringen, ohne Beruf und      
  20 Noth.      
           
  21 Die Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel (im philosophischen      
  22 Verstande) oder wie Sie sie nennen wollen. Gesetzt wir kennen alle      
  23 Buchstaben darinn so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren      
  24 und aussprechen, wir wißen so gar die Sprache in der es geschrieben      
  25 ist - - Ist das alles schon genung ein Buch zu verstehen, darüber      
  26 zu urtheilen einen Charakter davon oder einen Auszug zu machen.      
  27 Es gehört also mehr dazu als Physick um die Natur auszulegen. Physick      
  28 ist nichts als das Abc. Die Natur ist eine Aequation einer unbekanten      
  29 Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben      
  30 wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß.      
           
  31 Wir schreiben für eine Nation, wie die französischen Encyclopedisten;      
  32 aber für ein Volk, das Maler und Dichter fordert.      
           
  33 Mediocribus esse poetis      
  34 Non homines, non di, non concessere columnae ;      
           
  35 Dies ist kein Einfall des Horatz, sondern ein Gesetz der Natur      
  36 und des guten Geschmacks. Alle Ideen aber stehen in Ihrem Verstande      
  37 wie die Bilder in Ihrem Auge umgekehrt; Einfälle sehen Sie      
           
     

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