Kant: AA X, Briefwechsel 1759 , Seite 024

     
           
 

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    16.      
  02 Von Iohann Gotthelf Lindner.      
           
  03 Riga den 15/26ten Xbr 1759.      
  04 Hochedelgeborner Herr!      
           
  05 Hochzuehrender HErr Magister!      
  06 Werther Freund!      
           
  07 Unser gemeinschaftl. Freund hat mich ermuntert, Ew. Hochedelgeb.      
  08 zuweilen schriftl. zu besuchen. Er hat mir verschiedne kleine Anschläge      
  09 von Ihnen mitgetheilet, davon die Theorie von den Winden weitere      
  10 Ausforschung verdient. Ich bin Ihnen auch recht sehr für die Gedanken      
  11 über das Erdbeben verpflichtet. Sie haben den Vorzug, frühe      
  12 von einer Sache geredet zu haben, über die hernach ganze Bücher entstanden.      
  13 Ihre Gedanken über den Optimismus haben einen Gegner      
  14 gefunden, der, wenn er scherzen oder witzeln will, ins alberne oder      
  15 plumpe fällt, und wenn er seine Logick oder vielmehr seinen Kopf ansetzt,      
  16 unbekehrl[ich] ist. Denn wenn Sie ihn aus allen Redouten herausschlügen:      
  17 so setzt er sich hinter die Hauptbatterie; daß die beste Welt gegen die      
  18 Freiheit des göttl. Willens sey, gerade als wenn es bey Gott heissen      
  19 müsse: sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas. Allein was      
  20 ist nun mit ihm anzufangen? Die Natur der göttl. Freiheit ist für      
  21 uns eben so ein Feld zu Räthseln als die Natur seiner Weisheit. Daher      
  22 haben sie ganz gut gethan, ihm nichts weiter zu sagen Appelliren      
  23 Sie ad futura, und ich halte mit dem Sokrates dafür: das      
  24 wenige, was ich einsehe, find ich gut, ich denke, das übrige, so ich      
  25 nicht verstehe, wird es auch seyn. Und noch ein höherer Schriftsteller      
  26 saget, zum wenigsten für uns, diese ganz richtige Wahrheit in seinen      
  27 Psalmen: die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit. Wenn      
  28 ich seine Antwort durchlese: so find ich zuletzt einen Wortstreit. Will      
  29 er nicht zugeben, daß das die beste Welt sey, wo die meisten Realitäten      
  30 vorhanden sind, sondern daß diejenige gewählt worden, die      
  31 Gottes Endzwecken am gemässesten gewesen: so ist das ja eben die Beste.      
  32 Er greift also nicht sowohl den Satz als die Art zu beweisen an. Ew.      
  33 Hochedl. Gedanken, daß Realitäten durch Graden unterschieden und      
  34 diese als Negationen oder Schranken anzusehen sind, wünschte entwickelter      
  35 zu seyn. Schranken würden die Grade immer seyn, aber ob sie Negationes      
  36 sind, weiß ich nicht. Der Grad der Hitze eines Fiebers kan bey einem      
  37 Patienten stärker seyn als beim andern z. E. in hitzigen Fiebern.      
           
     

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