Kant: AA IX, Immanuel Kant's Logik Ein ... , Seite 027 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | IV |
||||||
02 | Kurzer Abriß einer Geschichte der Philosophie. |
||||||
03 | Es macht einige Schwierigkeit, die Grenzen zu bestimmen, wo der | ||||||
04 | gemeine Verstandesgebrauch aufhört und der speculative anfängt, | ||||||
05 | oder, wo gemeine Vernunfterkenntniß Philosophie wird. | ||||||
06 | Indessen giebt es doch hier ein ziemlich sicheres Unterscheidungsmerkmal, | ||||||
07 | nämlich folgendes: | ||||||
08 | Die Erkenntniß des Allgemeinen in abstracto ist speculative Erkenntniß, | ||||||
09 | die Erkenntniß des Allgemeinen in concreto gemeine Erkenntniß. | ||||||
10 | Philosophische Erkenntniß ist speculative Erkenntniß der | ||||||
11 | Vernunft und sie fängt also da an, wo der gemeine Vernunftgebrauch anhebt, | ||||||
12 | Versuche in der Erkenntniß des Allgemeinen in abstracto zu machen. | ||||||
13 | Aus dieser Bestimmung des Unterschiedes zwischen gemeinem und | ||||||
14 | speculativem Vernunftgebrauche läßt sich nun beurtheilen, von welchem | ||||||
15 | Volke man den Anfang des Philosophirens datiren müsse. Unter allen | ||||||
16 | Völkern haben also die Griechen erst angefangen zu philosophiren. Denn | ||||||
17 | sie haben zuerst versucht, nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse | ||||||
18 | zu cultiviren, sondern in abstracto ; statt daß die andern | ||||||
19 | Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich | ||||||
20 | zu machen suchten. So giebt es noch heutiges Tages Völker, wie die | ||||||
21 | Chinesen und einige Indianer, die zwar von Dingen, welche bloß aus der | ||||||
22 | Vernunft hergenommen sind, als von Gott, der Unsterblichkeit der Seele | ||||||
23 | u. dgl. m. handeln, aber doch die Natur dieser Gegenstände nicht nach | ||||||
24 | Begriffen und Regeln in abstracto zu erforschen suchen. Sie machen hier | ||||||
25 | keine Trennung zwischen dem Vernunftgebrauche in concreto und dem in | ||||||
26 | abstracto . Bei den Persern und Arabern findet sich zwar einiger | ||||||
27 | speculativer Vernunftgebrauch, allein die Regeln dazu haben sie vom | ||||||
28 | Aristoteles, also doch von den Griechen entlehnt. In Zoroasters | ||||||
29 | Zendavesta entdeckt man nicht die geringste Spur von Philosophie. | ||||||
30 | Eben dieses gilt auch von der gepriesenen ägyptischen Weisheit, die in | ||||||
31 | Vergleichung mit der griechischen Philosophie ein bloßes Kinderspiel gewesen | ||||||
32 | ist. | ||||||
33 | Wie in der Philosophie, so sind auch in Ansehung der Mathematik | ||||||
34 | die Griechen die ersten gewesen, welche diesen Theil des Vernunfterkenntnisses | ||||||
35 | nach einer speculativen, wissenschaftlichen Methode cultivirten, indem | ||||||
36 | sie jeden Lehrsatz aus Elementen demonstrirt haben. | ||||||
[ Seite 026 ] [ Seite 028 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |